Unter der Woche ist in Berlin nichts los. Die Läden haben geöffnet, doch die Geschäfte gehen so schleppend wie der Verkehr auf der Main Street. Lange Zeit kommt gar nichts, dann wieder eine Prozession im Zeitlupentempo: Trucks, Autos und knatternde Traktoren schleichen einerschwarzen Pferdekutsche hinterher. Die sagenhaften Sonderangebote von "Berlin Village Shoes" bleiben unbeachtet und die "Berlin Medical Clinic" hat heute Ruhetag.
Ich komme von Norden, habe das alte Industriegebiet des Rostgürtels durchquert, von Detroit bis Cleveland die abgewrackte Postmoderne Amerikas gesehen und bin noch ein wenig nachdeprimiert. So viel Niedergang, so wenig Zukunft. Doch je weiter ich auf dem Weg nach Süden in den grünen Hügeln Ohios versinke, desto stärker wirkt das Kontrastprogramm: gehegte und gepflegte Landschaft, grün, prall und fruchtbar.
Bin ich im Paradies gelandet? Nein - nur in Berlin, dem "Herzen der größten Amish Community der Welt", wie ein Schild am Ortseingang verkündet. Vor zweihundert Jahren wurde das Straßendorf von einem Berliner Auswanderer gegründet, und mit ihm kamen die ersten Religionsmigranten: Mennoniten und Amische.
Serviermädchen mit weißen Hauben
Amische? Ja, irgendwo habe ich wohl mal von diesem Völkchen gehört: dass sie vor Jahrhunderten aus der Schweiz und Süddeutschland auswanderten und zurückgezogen auf ihren Farmen leben, dass sie Elektrizität ebenso ablehnen wie Autos und Motoren und deshalb in schwarzen Kutschen, den buggys, herumfahren; dass sie religiöse Eigenbrötler sind und Probleme mit dem Genpool haben, weil sie nur untereinander heiraten.
Eigentlich bin ich in Eile, ich habe noch mein eigenes Reisetempo im Gepäck: schnell fahren, kurz halten, hastig essen und telefonieren, dann wieder weiter. Doch jetzt rumort der Magen. Ein Tankwart empfiehlt "Boyd & Wurthmann", gleich hier an der Main Street, das sei das älteste Restaurant Berlins, da gebe es noch echte amische Küche.
Gefunden in:
Geo Saison, Heft 6/2011, für 5 Euro ab sofort am Kiosk. Im Juni-Heft finden Sie neben der Norwegen-Titelgeschichte auch die ungekürzte Reisereportage zu den Amischen mit umfangreichen Serviceteil.
Die Serviermädchen mit ihren hellen Leinenkleidern, den farbigen Schürzen und den weißen Hauben auf dem Kopf wirken in der vornehmen Blässe des Nachmittagslichts wie von Vermeer gemalt. An den Tischen sitzen Männer in blauem Zwirn, mit Hosenträgern und Strohhüten. Sie tragen Wagnerbärte, diese oberlippenfreien Vollbärte, wie sie in Deutschland nur noch alte Jazz-Professoren oder der Chef des Ifo-Instituts im Gesicht haben. Ein Vermeermädchen nimmt meine Bestellung entgegen, unter ihrer Haube blitzt ein verlegenes Lächeln unter einem süßen Oberlippenflaum.
Strohhüte und lange Röcke statt Jeans und Baseball-Caps
Minuten später bekomme ich mein "Roast Beef Dinner" für unschlagbare 9,99 Dollar. Und während ich mich über die dampfende Riesenbulette und einen Berg Kartoffelbrei hermache, da stelle ich fest, dass keines meiner beiden Handys Empfang hat. Weder das amerikanische noch das deutsche.Das sei normal, sagt das Vermeermädchen. Die Amischen benützten eh kein Telefon, und für die paar anderen Bewohner lohne sich der Aufbau von Handymasten kaum. Ich bedanke mich, zahle und gebe ein schönes Trinkgeld.
"Danke shee!"
"Oh", sage ich. "Sie sprechen Deutsch?"
Irritiert blickt sie mich an. "No."
Hat mir nicht mal jemand erzählt, dass die Amischen so eine Art alten deutschen Dialekt sprächen? Den würde ich wirklich mal gerne hören, denn ich liebe deutsche Dialekte, vor allem die unverständlichen.Da ich eindeutig zu schwer zum Weiterfahren bin, gehe ich ein wenig spazieren. Die Main Street birgt keine Geheimnisse, dahinter aber ruhen die alten Berliner: sanft unter grünem Rasen. Auf dem Friedhof sprechen die Steine jedenfalls eindeutig Deutsch: Kaufman, Hershberger und Swartzendruber, Wengerd, Stutzman und Gerber.
Ohio ist Seelenbalsam, eine Zeitmaschine zum Herumgondeln. Meine Termine in Columbus habe ich verschoben und die nutzlosen Handys im Hotel gelassen. Herrlich! Kleine Sträßchen winden sich durchs Farmland, über sanfte Hügel und durch schattige Täler. Schwarze Buggys traben mir entgegen, überall bestellte Felder, kleine Seen und Wälder. Ein Bauer lenkt seinen Heuernter über die Wiesen, er wird von vier Pferden gezogen. Ich passiere kleine Farmen mit weißen Holzzäunen und Wiesen, auf denen winkende Kinder stehen. Sie tragen exakt die gleiche Kluft wie ihre Eltern und sehen mit ihren Strohhüten und Hosenträgern, Hauben und langen Röcken aus wie Erwachsene im Miniaturformat. Ich komme mir zweihundert Jahre jünger vor.
Die Schnurrbartfrau spricht ein merkwürdiges Deutsch
Im Flecken Kidron ist Markttag. Die Viehauktion ist schon durch, jetzt inspiziert man "Lehman's Hardware", einen riesigen Landbedarfsladen mit allem, was das Herz des Antimodernisten begehrt: Kohlenherde, Waschmaschinen mit Handkurbelantrieb, Butterfässer, Petroleum- und Propangaslampen, kerosinbetriebene Kühlschränke - es sieht aus wie in einem Manufactum-Laden. Gegenüber residiert seit 1929 "Kidron Town and Country", das Kaufhaus für die noch fehlende Software: Medikamente und Kleidung.
Mit der Haubenfrau an der Kasse verhandle ich gleich auf Deutsch - danke, ja, bitte eine Tüte, kann ich mit Karte zahlen? Doch sie antwortet verbissen auf Englisch. Zur Rede gestellt, erklärt sie, sie sei Mennonitin und könne kein Deutsch. Ich solle es doch mal auf Yoder's Farm bei Walnut Creek probieren, die sei auch für Touristen geöffnet.
Im Andenkenshop von "Yoder's Amish Home" kaufe ich das große Tourticket inklusive Buggyfahrt, Farm- und Schulhausbesichtigung und erspähe schon an der Wand einen vielversprechenden Aufkleber: "Mer schwetze noch die Mudderschprooch." Na endlich!
Voller Vorfreude strolche ich übers Farmidyll, weiche Truthähnen und Gänsen aus und erspähe schließlich hinter dem Kräutergarten ein zartes Haubenmädchen mit Schnurrbart. Sie schleppt einen Wassereimer. Weil sie mit der schweren Last nicht fliehen kann, überschütte ich sie mit einem Schwall deutscher Worte und Wendungen. Sie staunt, dann fragt sie: "Du bisch aussem Altelandt?"
"Nein, aus Deutschland."
Dieser Beitrag wurde leicht gekürzt. Die vollständige Reisereportage zu den Amischen mit umfangreichen Serviceteil finden Sie in Geo Saison, Heft 6/2011.