Mike McDaniel von den Miami Dolphins Sprüche, Sucht, Abstürze: Über den ungewöhnlichsten Coach in der NFL

Dolphins-Trainer Mike McDaniel
Dolphins-Trainer Mike McDaniel 
© Federico Gambarini / DPA
Wenn heute das erste Frankfurt Game der Geschichte startet, sollte man auf eine Person besonders achten. Nein, nicht Taylor Swift! Mike McDaniel gilt längst als genialer Coach. Sein Weg in die NFL war kein leichter.

865.

Diese Zahl hängt über seinem Schreibtisch, jeden Tag, auf eine Karteikarte gekritzelt. Sie ist ihm Mahnung, Menetekel, Bußegang auch. Sein ganz persönlicher Beichtstuhl. Man konnte das sehen in einem ESPN-Beitrag über ihn.

865, und zwar gerechnet in Tagen.

So lange war er raus, weg von dem großen, glitzernden Business, weg von den Profis. Weg von der NFL, dem Spiel. Klingt nicht nur wie eine Ewigkeit, es muss auch eine gewesen sein. Sich so angefühlt haben für einen, der die NFL liebt, American Football als Lebensgrundlage.

Wenn heute im ersten Frankfurt Game der Sportgeschichte Miami gegen Kansas City antritt, werden viele auf Superstar Mahomes schauen, auf Erfolgstrainer Andy Reid, auf Speedster Tyreek Hill vielleicht und gewiss auch darauf, ob sich Taylor Swift nun wirklich die Ehre gibt in Germany. Aber was ist mit dem Geek an der Seitenlinie, dem Typen mit verspiegelter Pilotenbrille und grauem Jogger? Wird ein paar Schlagzeilen abbekommen, klar, immerhin dirigiert er die potenteste Offense der Liga. Es werden wiewohl nicht genug sein, gemessen an seinem Werdegang. Gemessen daran, dass die Karriere dieses ungewöhnlichsten aller Head Coaches in der NFL bereits hätte vorbei sein können, ehe sie überhaupt begann.

Ehemalige Spieler überschlagen sich mit Lobpreisungen

Reden wir also über Mike McDaniel.

Oder, halt, nein. Lassen wir zuerst andere reden.

"Der absolut Beste in unserem Sport. Niemand holt mehr aus seinen Spielern raus", schwärmte Kyle Juszczyk, Fullback der 49ers.

"In einer Saison hat er mir mehr darüber beigebracht, wie man Wide Receiver spielt, als das andere über Jahre hinweg getan haben", sagte Nate Burleson, einst Ballfänger der Cleveland Browns.

"Geniale Game Plans, geniale Spielzüge", fasste George Kittle, Tight End in San Francisco, zusammen.

"Ich würde jeden Dollar von meinem Konto verwetten, dass kein anderer Kandidat offensiven Football so versteht wie er", rief Andrew Hawkins, der unter McDaniel in Cleveland gespielt hatte, ebenjenem nach.

Nun sind Lobhudeleien in der NFL nicht ganz unüblich, aber dass sie so konzentriert und überschwänglich auf einen Mann einprasseln, noch bevor dieser überhaupt mal Cheftrainer geworden ist, das ist dann schon einigermaßen außergewöhnlich. Mittlerweile coacht McDaniel hauptverantwortlich in seinem zweiten Jahr bei den Dolphins und hat die Liga im Sturm genommen. Was zum Einen natürlich daran liegt, wie er auftritt, frotzelt und Sprüche klopft. McDaniels Pressekonferenzen sind Pointengewitter und Feste des trockenen Humors, Ausschnitte davon gehen oft viral. In einer Liga, die sich dann doch zumeist ziemlich wichtig nimmt und ziemlich ernst daherkommt ob des vielen Geldes, das in ihr zirkuliert, hat es einen solchen Satiriker in Hauptverantwortung noch nicht gegeben. In Woche 9 der vorangegangen Saison fragte McDaniel mitten im Spiel den Bears-Quarterback Justin Fields, ob er vielleicht mit dem Scramblen aufhören könne, das sei schließlich so schwierig zu verteidigen. Die Kameras fingen den kuriosen Austausch ein, auch Fields' fassungsloses Lachen. Und als vor kurzem Reporter nachhakten, ob er noch etwas zu verkünden habe, sie dachten wohl an Hinweise zur Aufstellung oder zum Status der Rekonvaleszenten, da antwortete McDaniel mit unbewegter Miene, er wolle gerne verkünden, dass seine Frau zum Lebensmittelgeschäft gefahren sei, was spannend wäre, da er sich als "big snack-time guy" bezeichnen würde.

Aus den Dolphins hat er ein Monster gemacht, sich selbst nimmt er nicht so ernst

Dass McDaniel den Strategen im Stand-up-Comedian versteckt, sollte wiewohl nicht darüber hinwegtäuschen, wie gut er als Coach wirklich ist und mit ihm die sportliche Bilanz seit Amtsantritt. Gleich in der ersten Season führte er Miami in die Play-offs, wo man zwar an den Buffalo Bills scheiterte, aber auch signalisierte, dass mit dieser Franchise von nun an wieder zu rechnen sei. McDaniel hat Tua Tagovailoa endgültig einen Elite-Quarterback gemacht. Jetzt, in 2023, läuft Miami wie eine gut geölte Maschine, gerade die Offense ist ein vielköpfiges und unberechenbares Monster, das Rekord um Rekord frisst. Und manchmal auch Rekorde liegen lässt, absichtlich, auf Geheiß ihres Trainers.

Historisch war das 70:20 gegen die Denver Broncos vor einigen Wochen, bei dem nur drei Punkte und also ein Fieldgoal gefehlt hatten, um sich in die Geschichtsbücher als das Team mit den meisten jemals gescorten Punkten zu schreiben. Zeit genug wäre gewesen, auch die Fans forderten aus tausend Kehlen "three more points, three more points" – als Mike McDaniel entschied, keine weiteren dahin gehenden Bemühungen anzustellen. Miami kniete ab, was viele nicht verstehen wollten, Fairplay hin oder her. War dieser Mann zu weich für die harte Footballwelt? Wollte er sich denn nicht verewigen?

McDaniel erklärte, ihm gehe es nicht um Rekorde.

Und vielleicht erinnerte sich auch zurück, an ganz früher, als er selbst, ein kleiner Junge noch, geboren in Colorado, in der Heimat der Broncos, zu den öffentlichen Trainings dieser Mannschaft aus Denver geradelt war, um den Sport aufzusaugen, Fan zu sein, Autogramme abzustauben. Bei einem dieser Ausflüge nun ausgerechnet begab es sich, dass McDaniel, so wird es seither erzählt, seine Mütze im Gedrängel verlor. Ein Videoassistent der Broncos fand den weinenden, greinenden McDaniel, tröstete ihn, organisierte eine neue Cap und sorgte letzterdings dafür, dass der Bube obendrauf einen Job als Balljunge bekam. So fing es also an, mit McDaniel und dem Football. Heute noch lässt er Fans, ganz besonders Kinder, beim Training zuschauen, derweil andere Coaches ihre Sessions hermetisch abschirmen. Kleine Tribute an die eigene Biografie.

Früh angeheuert, früh wieder gefeuert

McDaniel blieb dabei, lernte, knüpfte Kontakte, studierte das Spiel und landete seinen ersten Job als Assistent von Kyle Shanahan bei den Houston Texans, 2006 war das und Shanahan damals schon Offensive Coordinator. Mike McDaniel indes hatte gerade eben erst seinen 21. Geburtstag gefeiert und war plötzlich mittendrin in diesem irren Zirkus namens NFL. Aber nicht lange. Weil Head Coach Gary Kubiak, ein knallharter Hund alter Schule, den jungen Assistenten zweimal morgens um sechs Uhr nicht per Telefon erreichte, obgleich ein Meeting stattfinden sollte, war McDaniel gefeuert. Er hatte verschlafen.

Die eingangs erwähnten 865 Tage blieb er danach ohne Anstellung in der NFL und verdingte sich als miserabel bezahlter Coach der Running Backs bei den Sacramento Mountain Lions in der unterklassigen und heute gar nicht mehr existenten United Football League. Es hätte das Ende aller NFL-Ambitionen sein können, wäre nicht Kyle Shanahan Offensive Coordinator in Washington geworden. Das Mastermind erinnerte sich an McDaniel und holte ihn abermals dazu.

Jahre später, in Atlanta, bei den Falcons, schaffte McDaniel es als Wide Receivers Coach bis in den Super Bowl, drohte aber einmal mehr das Erreichte zu verspielen. Damals trank er exzessiv und täglich, bis ihn Kollegen zur Rede stellten. Sie hatten Schnapsflaschen in seinem Büro gefunden, seine Alkoholfahne jeden Tag gerochen. McDaniel checkte für drei Wochen in eine Rehabilitationsklinik ein, wo ihm die Ärzte neben dem Alkoholismus auch eine handfeste Depression diagnostizierten. Er wurde trocken, was kein einfacher Kampf gewesen sein dürfte. Aber er wollte, das hat er in späteren Interviews bemerkenswert offen erklärt, den Football nicht ein zweites Mal verlieren. Seit 2016 hat Mike McDaniel keinen Tropfen mehr angerührt.

Ein Schachspieler, im Kopf schneller als andere

Stattdessen ist er zu einem der profiliertesten, klügsten Taktiker der NFL geworden. McDaniel war es, der Deebo Samuel in San Francisco als nie zuvor gesehenen Hybriden erfand, als Mischung aus Running Back, Receiver und Abrissbirne, als Joker im unendlichen Raum der Fantasie. Bisweilen wirkte es, als müsse McDaniel nur Hand auflegen, um auch noch den mittelmäßigsten Role Player in einen Schlüsselspieler zu verwandeln. Wenig verwunderlich, dass sich Samuels Output in dem Moment wieder normalisierte, da McDaniel nach Miami abwanderte. Was der Trainer mit Spielern macht, lässt sich nicht kopieren. Mit dem Zauberer geht der Zauber, und die Verzauberten sehen wieder aus wie normale Athleten.

Aber McDaniel gelingt es immer wieder, gerade jene zu überraschen, die ihn entschlüsselt zu haben glauben. Wie ein Schachgroßmeister antizipiert er drei, vier, fünf Spielzüge im Voraus, was passieren könnte, müsste, dürfte – wird. Man nehme etwa das Spiel gegen die New England Patriots, die von ihrem Coach Bill Belichick darauf eingeschworen worden waren, Tyreek Hill aus dem Spiel zu nehmen, sogar erfolgreich. Verzweifelt Mike McDaniel, seiner illustresten Waffe beraubt? Nein, er setzt komplett auf das Laufspiel, holt 145 Yards am Boden und lässt beide Rushing Touchdowns von Raheem Mostert lässig inside zone laufen, nachdem er das ganze Spiel über outside zone gecalled hatte. Die Defense der Patriots geht ihm auf den Leim. Schachmatt.
Bill Belichick hatte vor dem Spiel gesagt, man sei "sehr gut vorbereitet" auf alles, was Miami vorhabe. Nach dem Spiel konnte man festhalten: McDaniel mag es, wenn ihm andere nicht so viel zutrauen wie er sich selbst. Er kommt dann aus dem toten Winkel der Überraschung, aus dem Windschatten der allgemeinen Unterschätzung.

Es ist, vielleicht, die Geschichte seines Lebens.

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