EM-Fernsehkritik, Tag 16 Bei Kerner auf'm Balkon

  • von Mark Stöhr
Die EM-Sendung ist lang und will gefüllt werden: Lahm wird übel, Frings trägt Rippenpanzer aus Carbon und Casillas spielt mit Spezialhandschuh. Nachrichten sind ein kostbares Gut. Doch wenn sie rar werden, droht Gefahr. Das mussten die Zuschauer des ZDF leidvoll erfahren.

War das langweilig gestern? Die Italiener spielten ihren bräsigsten Catenaccio seit 1982, die Spanier liefen sich ihre jungen Knochen wund und müde. ZDF-Kommentator Béla Réthy war nicht zu beneiden. In der 60. Minute sein erster Hilferuf: "Ich versuche die ganze Zeit, den Standardsatz zu vermeiden: Ein Tor würde dem Spiel guttun. Aber mir fällt nichts anderes ein. Ein Tor würde wirklich was ändern." Es fiel nicht, nicht einmal annähernd. In der 70. Minute legte Réthy nach: "Irgendwann wird es nicht mehr ausreichen, den Ball nur zu haben." Das sahen die beiden Viertelfinalisten anders. Was für ein Grottenkick.

Da blieb zwischendurch nur noch die Flucht ins Alternativprogramm. Auf VOX kochte die österreichische Stürmerlegende Toni Polster beim "Perfekten Promi Dinner" für drei Wiener C-Promis. Sein Seezungenfilet mit einer Tomaten-Kapern-Buttersoße und gedünstetem Spinat wurde von zwei Gästen gelobt ("Die Gräten lösen sich ganz wunderbar, Toni") und von einem ignoriert ("Ich schalte auf eine andere Geschmacksebene: Ich denke nicht, ich esse"). Als Polster zum Dessert Schokoladentorte mit flambierten Bananen servierte, begann in Wien gerade die Verlängerung. Unverändertes Bild.

Hochgetunte jungenhafte Art

Die einen mauerten, die anderen rannten, keine Tore. Béla Réthy wurde vor lauter Langeweile immer blumiger ("Seit 24 Jahren war Spanien nicht mehr im Halbfinale. Kaum war das Make-up fertig, schon kam einer und hat es verschmiert") und verrannte sich in kruden Wortspielen, wie man sie eigentlich nur von Gerhard Delling kennt ("Natürlich kommen die Kombinationen der Iberer nicht mehr so flüssig daher. Zu hoch war der Flüssigkeitsverlust"). Selbst das anschließende Elfmeterschießen machte nur dadurch von sich reden, dass die Spanier es gewannen. Dabei hatte Johannes B. Kerner auf seine hochgetunte jungenhafte Art zu Beginn der Berichterstattung "eine prima Party" versprochen.

Auf die Bregenzer Seebühne schien die schönste Abendsonne, Jürgen Klopp war gut drauf, Urs Meier war gut drauf, das johlende Publikum sowieso. Doch der Schwung verlor sich schon mit den ersten Einspielern, wo klar wurde, dass es einfach nichts zu berichten gibt. Unsere Nationalkicker hatten immer noch ihre Familien zu Besuch und schipperten gemächlich über den Lago Maggiore. Philipp Lahm wurde bei einem Helikopterflug schlecht und befand sich umgehend auf dem Weg der Besserung. Und Torsten Frings schmerzte immer noch die gebrochene Rippe und bekam einen speziellen Rippenpanzer aus Carbon. So wurde also munter drauflos geplaudert wie bei einem Grillfest auf Kerners Balkon. Aus dem Frauenbesuch im Trainingsquartier wurde die "weibliche Manndeckung", die Türken waren die "Europameister der Schlussminuten", und Klopp schlug vor, Frings beim Abschlusstest aus einem Meter voll auf die Rippe zu schießen. Mal sehen, ob das weh tut.

Gefahr von Redundanzen

Wenn die Ware Information rar ist, besteht die Gefahr von Redundanzen. Das ZDF bestritt damit gestern einen ganzen Abend. Kerner wusste zu berichten, dass der spanische Torhüter Iker Cassillas seit einem Bruch seines Ringfingers mit einem Spezialhandschuh spielt. Wenige Minuten später erzählte die Außenreporterin Katrin Müller-Hohenstein auf dem Riesenrad im Wiener Prater mit einem kecken "Wussten Sie schon...?" die exakt gleiche Geschichte. Nein, sie habe keine Höhenangst, wohingegen Philipp Lahm - ja, wir wussten schon. Als sich Béla Rhéty entnervt in die Halbzeitpause verabschiedete ("In Mainz war sicherlich mehr los"), erwarteten uns im "heute-journal" folgende Topmeldungen: Philipp Lahm war nach einem Helikopterflug nicht mehr schlecht und Torsten Frings trägt einen speziellen Rippenpanzer aus Carbon. So viele Zuschauer konnten sich im Laufe des Abends gar nicht zuschalten, wie hier Info-Recycling betrieben wurde.

Aber eine wirkliche Überraschung gab es dann doch noch. Nein, es war nicht die musikalische Einlage des Starpianisten Lang Lang und des deutschen Kaufhausmusik-Fricklers Schiller, die ihre ZDF-Hymne für die olympischen Spiele, "Dreams of China", vorstellten. Auch nicht die erstmals geglückte Stadtwahl des Stimmungseinfängers Martin Leutke, der bislang in Wien, Prag und Bukarest nur auf enttäuschte Fans von Verlierermannschaften gestoßen war und sich in Madrid nun endlich sein "schlechtes Karma weggeschwitzt" hatte.

Nichts wird eben so heiß gegessen, wie es gekocht wird

Die Überraschung war ZDF-Experte Urs Meier, denn: Er hatte Recht behalten. Er, der normalweise jede zweite Frage mit einem "ja, absolut" beantwortet, hatte dem Eventzirkus Kerners die rote Karte gezeigt und ein mäßiges Viertelfinale prophezeit. Nichts wird eben so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Oder wie sagte ein Gast beim "Perfekten Promi Dinner": "Einen Löffel noch, Toni, und ich explodiere. Dann kannst du das Zimmer neu streichen." Toni Polster bekam zweimal die Höchstpunktzahl und gewann. So war es wenigstens für einen ein gelungener Abend in Wien.

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