Es ist Montagabend, 2. Juni, kurz vor 22 Uhr, als sich Andreas Ivanschitz mit einem Augenzwinkern vom Balkon des Balance Resort Hotel verabschiedet. "Ich muss jetzt schlafen", sagt der 24-jährige Kapitän der österreichischen Nationalmannschaft. Ivanschitz, der kreative Kopf und feine Techniker, Hoffnungsträger und Starspieler der rot-weiß-roten Auswahl, hat genug erlebt und gesehen an diesem ersten Tag im Trainingsquartier des EM-Gastgebers.
Vor dem Zubettgehen etwa noch ein brillantes Feuerwerk, das sich aus dem dünnen Nebel der hügeligen Landschaft erhob und zudem der EM-Song von Christina Stürmer ("Fieber") aus den Hotellautsprechern dröhnte. Gibt es eine spektakulärere Inszenierung in einem Trainingslager?
Gemütliche Atmosphäre
Einen besseren Ausblick auf das südliche Burgenland, das grüne Herz weit draußen vor der Millionen-Stadt, gibt es auf alle Fälle kaum, als von der Anhöhe dieses feudalen Golf- und Thermenresorts im verträumten 2000-Einwohner-Örtchen Stegersbach. Ein halbes Dutzend Hotels für betuchte Städter, vornehmlich Golfspieler, sind hier gebaut worden – das beste hat der Österreichische Fußball-Bund (ÖFB) für seine Auswahl samt Begleittross gemietet.
Vorläufig bis zum 16. Juni, "aber ich wäre nicht glücklich, wenn wir dann schon unsere Zelte hier abbrechen müssten", betont ÖFB-Präsident Friedrich Stickler beim Empfang zum so genannten Kick-off-Dinner im Mannschaftshotel, wo geladene Sponsoren oder Medien willkommen sind. Gleich daneben, im Hotel Larimar, wohnen ja schiedlich-friedlich mehr als hundert vornehmlich österreichische Berichterstatter – und gleich am ersten Tag gibt es ein gemeinsames Abendessen. Verhältnisse, die bei der deutschen Nationalmannschaft längst undenkbar wären.
Großes Selbstbewusstsein
"Wir sind bewusst nicht nach Wien gegangen, dort wäre es zu hektisch gewesen", erklärt Andreas Herzog, der Teammanager, "aber warum sollen wir uns total abschirmen?" Auf dem roten Bus steht ein Slogan, der an die Gemeinsamkeit appelliert, "nur so schaffen wir es" (Herzog). Die Sensation, die Überraschung, den Coup, den eigentlich niemand dem 101. der Fifa-Weltrangliste zutraut.
Klar, Deutschland gilt in Gruppe B als haushoher Favorit, gemeinhin wird erwartet, dass sich Polen und Kroatien um Platz zwei rangeln, während Österreich unter ferner liefen rangieren sollte. Oder gar nicht erwähnt wird, wie es Nico Kovac, der ehemalige Bundesliga-Profi, alte Haudegen und heutige Spieler bei Red Bull Salburg in einer Vorhersage getan hat. Mit dieser profunden Meinung konfrontiert, kontert Josef Hickersberger kühl. "Er kann das ja sagen. Ich habe ja auch geglaubt, dass Nico Kovac es mit Salzburg schafft, in Österreich überlegener Meister zu werden. Den Titel aber hat Rapid Wien. Es gibt halt immer Fehleinschätzungen im Fußball."
Trainer genießt hohes Ansehen
Der 60-jährige spricht diese Sätze langsam und deutlich zur Mittagsstunde im trockengelegten Thermenpool des Hotels Larimar – seine zynische Antwort auf die Kovac-Kritik wird live im ORF übertragen. Wie ein Seismograf wird auch bei der österreichischen Auswahlelf längst jede Regung, jede Bewegung, jedes Wort aufgezeichnet – und dennoch hat man sich eine Gelassenheit bewahrt, die aus deutscher Sicht bewundernswert ist.
Vor allem Hickersberger, der weitgereiste Weltmann, einst selbst Mitglied der legendären Elf, die 1978 in Cordoba die Deutschen düpierte, dann als Teamchef 1990 über ein 0:1 gegen die Färöer Inseln gescheitert, spielt auf einer Klaviatur aus feiner Ironie und bewusstem Schmäh; so beredt ist kaum ein Kollege unter den Fußball-Lehrern wie der in Amstetten geborene Sohn eines Sandalenfabrikanten. Man darf auch konstatieren: Ohne seine rhetorischen Fähigkeiten hätte "Hicke" kaum anderthalb Jahre mit nur zwei Siegen – im Oktober 2007 gegen die Elfenbeinküste (3:2) und jüngst im Testspiel gegen Malta (5:1) – überlebt.
Spieler sind "hungrig und durstig"
Doch im Grunde gibt es keine Alternative zu dem Vordenker, der sich ungewöhnlicher Methoden und Marotten verdient. Beispielsweise hat er unlängst eine Hypoxiekammer im Trainingslager in Lindabrunn installieren lassen, um einen Höheneffekt während der Massagen zu erreichen. Und just hat er fürs Teamhotel ein Rauchverbot verhängt, das er spaßig zu begründen weiß.
"Wir leben in diesem Land zwar in einer Demokratie, aber wo ich das Sagen habe, geht es anders zu." Er persönlich bricht die Reden beim Empfang ab und bittet zum Essen, "meine Spieler sind hungrig und durstig." Und er scheut sich auch nicht, die Uefa nachträglich noch für eine unangemeldete Dopingkontrolle am vergangenen Donnerstag in den Senkel zu stellen, schließlich musste deshalb Hickersbergers Vidoeanalyse über Stärken und Schwächen der Malteser ausfallen. "Ich hoffe, die kommen jetzt nicht wieder einen Tag vor dem ersten EM-Match."
Das steigt am Sonntag gegen Kroatien im Ernst-Happel-Stadion, "und dafür haben wir eine Strategie", warnt der Teamchef geheimnisvoll. "Hickersberger ist ein toller Mensch. Und einer der letzten Fußball-Philosophen", sagt ÖFB-Boss Stickler voller Anerkennung, "er ist genau der richtige Mann für dieses Projekt."
Klinsmann hat geholfen
Welches übrigens durchaus in Anlehnung an das deutsche Sommermärchen 2006 geplant worden ist. Herzog, die rechte Hand Hickersberger, verrät, dass er in ständigem Dialog mit Jürgen Klinsmann stand, dem deutschen Chefreformer. "Wir haben nicht alles übernommen, aber ein paar gute Tipps waren dabei."
So gibt es auch im österreichischen Begleittross einen Englisch sprechenden Fitnesstrainer (der Brite Roger Spry), einen Psychologen (Günter Amesberger), ein ausgeklügeltes Spielanalysesystem und einen ausgeprägten Teamspirit. Bei der zweistündigen öffentlichen Trainingseinheit auf dem putzigen Sportplatz des SV Stegersbach ist das bestens zu besichtigen. Herzog leitet persönlich das Aufwärmen – und rhythmisches Klatsches und Rufen zu unkonventionellen Bewegungen, die eher an Aerobic denn an Fußball erinnern, zählen dazu. Als sich jeweils vier Spieler hockend an die Hände fassen, prüft der 41-jährige Rekordnationalspieler persönlich die Haltbarkeit der Verbindungen. Es können Kleinigkeiten sein, die später über Erfolg und Misserfolg entscheiden.
Hoffen auf Cordoba
Die Auserwählten befolgen jeden Ratschlag des Trainerstabes – es gibt im Übungsbetrieb klar erkennbare Automatismen. Obwohl ein gewaltiges Gewitter den gepflegten Rasen mit Pfützen übersät hat, rennen, grätschen, passen und köpfen die angeblich nur zweitklassigen Profis, als ob die EM schon angepfiffen wäre. Keine Frage: Der Underdog wird willig und bissig sein; toppräpariert und topmotiviert ins Turnier starten – und was Sturm und Drang bewegen können, haben Deutschland und Niederlande in ihren Testspielen im Februar und März trotz ihrer 3:0 bzw. 4:3-Siege im Ernst-Happel-Stadion können. Gegen die Deutschen hätten die respektlosen Österreicher 3:0 führen können, gegen die Niederländer taten sie es.
"Wenn es jetzt los geht", warnt Herzog, "wird es verdammt schwer, uns in Wien zu schlagen." Und sein Chef glaubt: "Ich bin mit jedem Tag optimistischer geworden, weil die Spieler mir dazu allen Anlass im Training geben." Und dann erinnert Hickersberger, einst bei Fortuna Düsseldorf und Kickers Offenbach beschäftigt, noch einmal unweigerlich an seine aktive Zeit, die WM 1978. Das berühmte C-Wort nimmt der Mann gar nicht in den Mund, sondern beschreit lieber die viel schwierige Aufgabe im fernen Argentinien.
"Wir waren damals in einer Vorrunde mit Brasilien, Schweden und Spanien und hatten keine Chance. Eine österreichische Bank war damals so leichtsinnig und hatte versprochen, alle Frauen und Freundinnen einzufliegen, wenn wir die Gruppe überstehen. Und siehe da: Wir haben es geschafft." Fürs bevorstehende Geschehen kündigt Hickersberger eine Wiederholung der Geschichte an. Der einzige Unterschied: "Diesmal werden die Frauen von mir persönlich hier hoch nach Stegersbach eingeladen." Ivanschitz und Gefährten dürften kaum etwas dagegen haben.