Das Halbfinale der Euro 2012 in Polen und der Ukraine könnte kaum hochkarätiger besetzt sein. Am Mittwoch kommt es in Donezk zum iberischen Bruderduell, einen Tag später kommt es zur Neuauflage des Klassikers zwischen Deutschland und Italien. Doch bevor wir uns schon auf die Vorschlussrunde einschießen, ziehen wir nochmal eine Bilanz der Viertelfinalpaarungen.
Das DFB-Team bekam nach dem zeitweise entfesselten Spiel gegen Griechenland sehr viel Lob, der neutrale Beobachter soll beim Titelverteidiger dagegen mehr gegähnt als gejubelt haben. Wir räumen trotzdem mit der Mär auf, Deutschland sei völlig sorgenfrei oder müsse überhaupt keine Angst (Bild-Zeitung) vor Spanien haben.
1) Özil war der Profiteur, Schweinsteiger der Leidtragende der Offensiv-Wechsel
In den kommenden Tagen wird die deutsche Öffentlichkeit vor allem eine Frage interessieren: Wie stellt Bundestrainer Joachim Löw gegen Italien auf (abgesehen vom Zeitpunkt, wann der Maulwurf die Aufstellung ausbuddelt)? Denn im Offensiv-Quartett hat Löw nach dem 4:2-Sieg gegen Griechenland so viele Optionen leicht wird ihm diese Entscheidung nicht fallen.
Eine Rückkehr zur Startelf der Gruppenspiele verspricht mehr defensive Stabilität, vor allem Bastian Schweinsteiger dürfte dankbar sein, wenn er nicht mehr alleine Löcher stopfen muss. Sami Khediras Rolle war wesentlich offensiver ausgerichtet, was Schweinsteiger zum Alleinverantwortlichen in der Rückwärtsbewegung machte. Die drei griechischen Defensivspieler im Mittelfeld schalteten sich abwechselnd in den Angriff ein, was für Schweinsteiger ein hohes Maß an Antizipation abverlangte. Es gelang ihm nicht immer, auch deshalb konnte das zwischenzeitliche 1:1 fallen.
Andererseits haben Miroslav Klose, André Schürrle und Marco Reus ihre Sache gegen Griechenland über weite Strecken gut gemacht, das Trio bleibt nah an der ersten Elf. Denkbar ist natürlich auch eine Mischform, gerade Reus sorgte auf der rechten Seite für viel Dynamik und Schnelligkeit, seinen Treffer erzielte er dann, als er schon auf die linke Seite gewechselt war.
Während Schweinsteiger etwas allein gelassen wurde, gab es mit Mesut Özil auch einen Nutznießer der Löwschen Umstellungen. Özil war der überragende Dirigent, bereitete das Klose-Tor direkt vor, war an zwei weiteren Treffern beteiligt, hatte 146 Ballkontakte (Quelle: sky.de/opta) und war in der Offensive fast in jedem Winkel des Spielfelds zu finden.
Besonders gut funktionierte die Abstimmung mit Reus, auch wenn nicht jedes Anspiel ankam und das Timing immer mal wieder missglückte. Mal ging Özil auf die rechte Seite und Reus suchte sich andere Räume, dann fand der Spielmacher seinen neuen Partner in der Tiefe und zusammen mit Klose bildeten Özil und Reus auch immer wieder ein starkes Dreieck.
Gegen die disziplinierten und taktisch hervorragend ausgebildeten Italiener muss Löw demnach folgende Entscheidungen treffen:
a) Muss wieder mehr Balance ins deutsche Spiel, um den angeschlagenen Schweinsteiger zu entlasten?
b) Bekommt Özil zumindest einen (Reus) spielstärkeren Nebenmann?
c) Ist Gomez' Effektivität wichtiger als Kloses Einbindung als spielender Mittelstürmer?
2) Deutschland hat den ausgeglichensten Kader
Mit Marcel Schmelzer, Ilkay Gündogan, Benedikt Höwedes und Per Mertesacker wird es wahrscheinlich vier Feldspieler im deutschen Kader geben, die ohne eine EM-Minute nach Hause reisen müssen Günter Hermann lässt grüßen. Schmelzer, Höwedes und Mertesacker sind aber Abwehrspieler, in der Viererkette wechselt Löw grundsätzlich ungern und die Stammbesetzung der EM gibt auch keinen Anlass für Veränderungen.
Trotzdem hat der deutsche Kader eine Tiefe, die sonst nur Spanien zu bieten hat. Lars Bender als Rechtsverteidiger? Easy! Der dreifache Torschütze Gomez auf der Bank? Kein Problem! Mit Mario Götze schafft eins der größten europäischen Talente nicht den Sprung in die erste Elf? So ist das halt!
Deutschland und Spanien gehen favorisiert in das Halbfinale, viel spricht für eine Wiederauflage des EM-Finales 2008. Diesmal könnte es aber auf Augenhöhe stattfinden, was auch an den Alternativen im deutschen Kader liegt. Warum das DFB-Team nun aber nicht automatisch den Titel holt und Spanien im Umkehrschluss nicht so schlecht ist, wie es die deutsche Medienlandschaft gerne hätte, haben wir bereits ausgeführt und erläutern es weiter:
3) Spanien: Vielleicht nicht schön, aber verdammt effektiv
Spanien sieht sich, nicht nur in Deutschland, sondern beispielsweise auch in englischen Medien, einem gravierenden Vorwurf ausgesetzt: Der Titelverteidiger spielt LANGWEILIG! Wenn am Ende aber wieder die EM-Trophäe herausspringt, wird es Trainer Vicente del Bosque herzlich egal sein.
Tatsächlich hat del Bosque ein System gefunden, dass beim prozentualen Anteil des Ballbesitzes, Anzahl der Pässe und Passgenauigkeit stark an den FC Barcelona erinnert, dabei aber gerade in der Defensive stabiler wirkt. Bei durchschnittlich 68 Prozent Ballbesitz in den vier EM-Spielen (Quelle: sky.de/opta) kommt der Gegner fast automatisch nur selten zu Torchancen, tatsächlich ließ Spanien bisher 28 Torschüsse zu. Nur zum Vergleich: Deutschland gestattete in den vier EM-Spielen 45 Torschüsse.
Besonders beeindruckend war die zweite Halbzeit gegen Frankreich. Die zuvor hoch gehandelte, aber intern wohl zu sehr zerstrittene Equipe Tricolore schoss in 45 Minuten kein einziges Mal auf den Kasten von Iker Casillas. Und dabei erzielte die Furia Roja bisher nur einen Turniertreffer weniger als die DFB-Elf (8:9).
Auch das Spiel ohne Stürmer wird auf spanischer Seite viel diskutiert, war bisher aber kein Nachteil. Sollte Deutschland im Finale auf die Spanier treffen, wird eher der rechten Seite mit Jerome Boateng und Müller/Reus eine Schlüsselrolle zufallen, als den Innenverteidigern Mats Hummels und Holger Badstuber. Der vermutlich zum FC Barcelona wechselnde Jordi Alba und sein zukünftiger Teamkollege Andres Iniesta bilden doch ein entscheidendes Duo, was die Franzosen zwar auch ausgemacht hatten, aber nicht stoppen konnten. Vielleicht denken wir aber auch schon viel zu weit:
4) Prandelli hat ein neues Italien geboren
Denn mit Italien wartet im Halbfinale eine Mannschaft, die auch das deutsche Team in der derzeitigen Verfassung vor große Probleme stellen kann. Dabei spielt die Statistik Deutschland konnte noch nie ein Turnierspiel gegen die Squadra Azzurra gewinnen für uns nur eine untergeordnete Rolle.
Im Viertelfinale gegen England zeigten die Italiener über 120 Minuten eine beeindruckende Leistung, einzig die Tore fehlten zu einem rundum geglückten Abend. 36:9-Torschüsse (Quelle: Sky/opta) spechen eine deutliche Sprache, Italien hat sich unter Trainer Cesare Prandelli zu einem Team entwickelt, dass es liebt, offensiv zu agieren.
Angeführt von einem grandiosen Andrea Pirlo, der jede Abwehr der Welt mit seinen messerscharfen Skalpell-Pässen auseinandernehmen kann, gehört der Catenaccio endgültig der Vergangenheit an. Italien will offensiv spielen, lässt die defensive Ordnung dabei aber selten außer Acht. Wir können uns auf ein großes Halbfinale freuen.
5) Cristiano Ronaldo: Der Ballon d'Or rückt immer näher
Die Fachwelt ist sich einig: Wenn im kommenden Winter der Weltfußballer des Jahres gekürt wird, fällt die Entscheidung wie schon in den vergangenen Jahren nur zwischen Lionel Messi und Cristiano Ronaldo. Zuletzt gewann Messi bekanntlich drei Mal in Folge, aber die EM könnte der Schlüssel für den zweiten Ballon d'Or Ronaldos sein.
Zur Erinnerung zunächst Ronaldos Bilanz bei Real Madrid: 60 Pflichtspieltore erzielte der Portugiese, davon 46 in der Primera División, dabei sprang mit der Rekordzahl von 100 Punkten der erste Meistertitel der Königlichen seit 2008 heraus. Doch in der Vergangenheit waren es die Leistungen bei großen Turnieren, die entscheidenden Einfluss auf die Wahl nahmen, klammert man Messis Erfolg 2010 mal aus. Und genau hier scheint Ronaldo auf einem guten Weg.
In den ersten beiden Spielen enttäuschte Ronaldo noch mit vielen vergebenen Torchancen, doch dann folgten zwei Weltklasse-Leistungen gegen die Niederlande (sportal.de-Note 1) und Tschechien (sportal.de-Note 2). Ohne Nani und Ronaldo wäre Portugal eine äußerst durchschnittliche Mannschaft ohne realistische Chancen auf den EM-Titel. Nun geht es gegen einige seiner Kollegen bei Real und Ronaldo weiß, was er zu tun hat: "Ich glaube nicht, dass ich den Ballon d'Or wegen meiner Leistungen bei der Euro gewinnen werde", sagte Ronaldo bei goal.com, "aber sie können sehr hilfreich sein."
Marcus Krämer