Die Melbourne Docklands sind das Megaprojekt einer betörenden Großstadt. Milliardenschwere Investitionen haben in den alten Hafenanlagen modernste Wohnungen für 30.000 reiche Menschen, noch ein tolles Football-Stadium und natürlich auch futuristische Hotels entstehen lassen. Zwar nicht direkt an der Waterfront, aber nur eine Reihe dahinter hinter Palmen steht jenes verspiegelte Hotel, in dem die deutschen Fußballerinnen noch eine zweite Nacht verbracht haben, ehe es am Dienstag gegen 13.30 Uhr Ortszeit zum Flieger nach Newcastle und dann zurück ins Quartier nach Wyong ging.
Die fröhlichen Gesänge nach dem 6:0-Schützenfest gegen den überforderten WM-Neuling Marokko belegten, welcher Ballast von vielen Spielerinnen abfiel. "Girl On Fire" von Alicia Keys trällerte sogar die sonst doch eher schüchterne Jule Brand voller Inbrunst mit, als der Fifa-Bus die EM-Heldinnen vom erfolgreichen WM-Auftakt zurück vom Rectangular Stadium aus dem Olympic Park durch die verregnete Nacht von Melbourne fuhr.
Vor allem eine scheint für die Mission dritter Stern zu brennen wie keine andere: Alexandra Popp, wer sonst.
Alexandra Popp: Zwischen Freudenschrei und "E.T"-Torjubel
Ihr Doppelpack kaschierte die Unzulänglichkeiten einer ersten Halbzeit, in der stärkere Gegner die Probleme des deutschen Teams wohl bestraft hätten. "Nicht alles tippitoppi" fand auch Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg, wollte gleichwohl nicht zu viel meckern. "Ob das ein Statement an die anderen ist, sollen die anderen für sich bewerten. Wir können das aber einordnen und drehen jetzt nicht durch." Doch ihr Grinsen auf der Pressekonferenz verriet, welcher Ballast auch von ihr abgefallen war.
Neben ihr saß die zur Spielerin des Spiels gewählte Alexandra Popp, die gar nicht an die lauthals auf dem Platz jubelnde Spielführerin (mit der Armbinde gegen Gewalt an Frauen) erinnerte. War das noch dieselbe Person, die ihre Freude herausbrüllte, weil sie erfolgreich mit all ihrer Entschlossenheit voranging? Als die Torjägerin sich mit der Trainerin aufs Podium zur Pressekonferenz setzte, war ihr Haar noch nass. Als sei die 32-Jährige kurz noch in den direkt daneben gebauten Swimmingpool gesprungen. Dazu trug sie eine schwarze Brille und legte eine fast nachdenkliche Miene auf. Sei sie vielleicht gerade sentimental? "Jein!"
Es brauchte mehr als eine Nachfrage, um der Anführerin zu entlocken, warum sie an diesem Auftaktabend an Australiens Ostküste offenbar in den Zwiespalt der Gefühle gerutscht war. Wie bei der WM vor vier Jahren wiederholte sie jene Gesten, mit denen sie ihre Tore im letzten Gruppenspiel in Montpellier gegen Südafrika (4:0) und im Achtelfinale in Grenoble gegen Nigeria (3:0) zelebriert hatte: einen Telefonhörer formen und den Zeigefinger zum Himmel führen. Wie die Filmfigur E.T. nach Hause telefonieren. "Derjenige, der abgenommen hat, ist mein Vater", verriet sie.
Und wie in dem Steven-Spielberg-Klassiker die außerirdische Hauptfigur eine Verbindung aufbaute, ahmte Popp es auf der anderen Seite der Erde nach, denn: "Damit möchte ich nicht nur die Menschen an den Bildschirmen erreichen. Sondern vor allem die Menschen, die nicht mehr unter uns sein können und die mir sehr wichtig sind oder waren. Ich möchte einfach zeigen, dass ich an sie denke." Gemeint hat die 32-Jährige ihren kürzlich verstorbenen Papa. Ein Umstand, der aus ihrem streng behüteten Privatleben öffentlich noch nicht bekannt war. Auch über ihren Ehemann redet die Vorzeigefigur des deutschen Frauenfußballs ansonsten nur ungern.
Trainerin Voss-Tecklenburg: Auch da kommen wir zusammen durch!
Weil niemand besser ihre persönlichen Befindlichkeiten kennt, als die ihr seit dem Jugendalter verbundene Voss-Tecklenburg, gab es demonstrativ einen Klaps vor den laufenden Kameras. Die beiden kennen sich, seit Popp mit 15 Jahren das erste Mal beim Länderpokal mitspielte – damals trainierte sie am Berger Feld mit lauter Jungs. Bereits mit 17 Jahren wurde sie Spielerin unter Voss-Tecklenburg beim FCR 2001 Duisburg.
Die öffentliche Symbolik sollte jetzt heißen: Kopf hoch, Mädchen! Auch da kommen wir zusammen durch!
Was das Überwinden von Widerständen angeht, sind die beiden Schwestern im Geiste. Ein Doppelpack mit den Länderspieltoren 63 und 64 im 129. DFB-Einsatz diente offenbar als Teil eines persönlichen Verarbeitungsprozesses, der in ihrer bald erscheinenden Biografie sicher auch zur Sprache kommen wird. In diesem Licht strahlte auch die Belobigung der Bundestrainerin, dass Popp nicht nur eine Leaderin sei, sondern "eine Spielführerin, wie man sie sich nicht besser wünschen kann. Aber sie ist gleichzeitig ein Teamplayer." Wer offenbar nun auch bei diesem Großereignis so vorbildlich vorangeht, imponiert der 55-Jährigen besonders.
DFB-Team in der Einzelkritik: Popp wieder im Fokus – aber auch eine andere Offensivspielerin überragt

Ein entspanntes WM-Debüt für die deutsche Torhüterin. Bei einem marokkanischen Konter drängte sie Tagnaout mit starkem Stellungsspiel ab. Ansonsten wurde Frohms kaum gefordert, musste nur ein paar Distanzschüsse abfangen.
Popp hat sich keine Trefferzahl vorgenommen
Popps vierte und wohl letzte WM soll – anders als das Heimturnier 2011 in Deutschland, 2015 in Kanada und 2019 in Frankreich – nicht wieder in einer Enttäuschung enden. Dennoch hat sich die Bundesliga-Torschützenkönigin für dieses Turnier partout keine Zahl vorgenommen. Sechs Treffer waren es bei der EM im vergangenen Jahr, ehe sie sich vor dem Endspiel gegen England verletzte. Und jetzt? "Ich will ins Finale kommen, das bestmöglich spielen und gewinnen." Und dafür wirft sich die "fliegende Legende", wie das Fachmagazin "Kicker" sie nennt, in jeden hohen Ball.
Wie sie beim 2:0 in einer Rückwärtsbewegung die Kugel mit dem Hinterkopf überhaupt aufs Tor brachte, genügte höchsten Ansprüchen. Das 1:0 war dagegen ja fast ein Kinderspiel, als sie ins leere Tor köpfelte, aber auch eben wieder perfekt in der Luft stand. Colin Bell, Trainer vom dritten Gruppengegner Südkorea, nennt sie die weltbeste Kopfballspielerin. Mit einem Augenzwinkern kommentierte die noch leicht angeschlagene Vereinskollegin vom VfL Wolfsburg, Lena Oberdorf, den Tatendrang der Teamkapitänin: "Das war eine solide Leistung von der Frau Popp", witzelte die 21-Jährige.
Dann ging’s gemeinsam mit dem Bus an die Waterfront von Melbourne, wo Alexandra Popp und Co. bald schon wieder anzutreffen sind. Wenn sie nämlich das Achtelfinale als Gruppenerster am 8. August an selber Stelle bestreiten.