Nachdem er nun dem Drogentod entkommen ist und dem Herzstillstand und sich den Magen verkleinern ließ und die Kokainsucht kurierte und Präsident Bush einen Mörder nannte und den Papst einen Hurensohn und mit Fidel Castro Revolutionen plante und mit Robbie Williams ein Duett, steht Diego Armando Maradona, der Herrscher, der König, der Gott, an diesem kalten Abend im Mai wieder auf dem Rasen, der einst sein einziges Reich war. Es ist ein nebliger Freitag in Rosario, der Geburtsstadt Che Guevaras. Maradona steht winkend am Anstoßkreis, das Haar voll Gel, im Ohr ein Diamant. Er trägt das Trikot der argentinischen Nationalmannschaft und auf der Wade ein Tattoo vom Che, und aus seinem Mund dringt nun ein Wort, das den Menschen im Stadion einen Aufschrei entlockt, ein Kreischen, eine Welle der Hysterie.
Er sagt "Hola".
Kurz sieht es so aus, als wollte Maradona noch etwas hinzufügen, aber die Menschen in der ausverkauften Arena "El Coloso" lassen ihn nicht zu Wort kommen. "Hallo" ist schon eine Menge. "Hallo" ist überwältigend. Diego ist nicht nur persönlich zu ihnen nach Rosario gekommen. Er wird nicht nur für sie Fußball spielen. Er spricht auch zu ihnen. Er spricht noch die Worte "Gracias" und "Vamos". Am schönsten wäre es, wenn er jetzt noch eine Einschätzung zur WM hätte, eine Prophezeiung, ein Stück Hoffnung nach der Katastrophe vor vier Jahren und der Enttäuschung vor acht Jahren, und tatsächlich hat er eine Botschaft, die schon kurz darauf als Eilmeldung ihre Reise durch die Republik antreten wird.
Er sagt: "Ich bete zu Gott, dass Argentinien Weltmeister wird."
Wenn Maradona etwas sagt, ist Gott nie weit. Als er bei der WM 1986 gegen England das 1 : 0 mit der Hand erzielte, sprach er von der "Hand Gottes". Als er mit der Drogensucht rang, der Fresssucht und Sexsucht, war es die Hand Gottes, die ihn aus dem Sumpf zog. Wenn er, der Gott des Fußballs, jetzt den Allmächtigen um den WM-Sieg bittet, könnte es eine reelle Chance geben. Und das Schöne ist, er hat keine glasigen Augen mehr bei diesen Sätzen. Er ist bei klarem Verstand. Er sieht gut aus dort auf dem Platz, 50 Kilo leichter, der Oberkörper gestählt, die Bewegungen geschmeidig. Er führt ein argentinisches Seniorenteam zu einem 9 : 4 über Kolumbien. Das Fernsehen berichtet live, die Zeitungen schreiben etwas von Magie, noch in der Nacht fordern Fans im Zentrum Rosarios seine Rückkehr in die Nationalelf.
Er ist erst 45.
Einige Zuschauer sind zwei Tage gereist, um den Göttlichen leibhaftig zu sehen. Sie sind nur für ihn gekommen, wie zu einer Messe, einer Audienz. Sie tragen Trikots mit der Nummer 10 und dem Aufdruck "Gott existiert". Sie singen eine Stunde lang in hypnotischer Hingabe das Lied von einem Hemd, das er einst trug. In der ersten Reihe sitzen Gläubige der Iglésia Maradoniana, die 60 000 Mitglieder hat in 600 Städten. Das Weihnachtsfest feiern sie am 30. Oktober, dem Tag seiner Geburt im Armenghetto Villa Fiorito. Ostern feiern sie am 22. Juni, dem Tag des 2 : 1-Triumphs über England, der Rache für die Falkland-Schmach, der Wiederauferstehung des argentinischen Volks. Ihr Priester Hernán Amez trägt einen Rosenkranz mit 34 Minifußbällen für die 34 Tore, die Diego im Nationalteam schoss. Hernáns Frau Marcela führt die Bibel stets dabei, die Biografie "El Diego", die Geschichte seines Kreuzwegs. Sie würde dem Reporter ganz gern eine Lebenshilfe mit auf den Weg geben, die zehn Gebote, Originalsätze des Herrn, und schon beginnt sie mit dem Rezitieren, Gebot Nummer eins: Du sollst den Fußball nicht beschmutzen; Gebot Nummer zwei: Liebe den Fußball über alles; Gebot Nummer fünf: Verbreite die Wunder Diegos auf der ganzen Welt...
Wer hinter so viel Anbetung Ironie vermutet, wird sich die Predigt des Priesters Amez anhören müssen. Sie umfasst die Unterdrückungsgeschichte des Landes und die unendliche Liebe zum Fußball und den Aufstieg Maradonas zur Symbolfigur einer Nation. Wie Maradona war Argentinien einst reich und hat fast alles verloren. Wie Maradona befindet sich das Land im ständigen Auf und Ab, stets am Rand der Ekstase oder des Weltuntergangs. "Diego kam auf die Welt, um der Menschheit Glück zu bringen, den Armen Hoffnung, der Nation die Unsterblichkeit", sagt Amez. Lag er vor vier Jahren noch am Boden - wie das Land und das Nationalteam -, so ist er jetzt wieder da - wie das Land und das Team.
Die WM kann beginnen.
Geht es nach den Argentiniern, ist ihr Land mal wieder an der Reihe mit dem Titel. 20 Jahre ist es her, dass sie Deutschland im Finale von Mexiko besiegten. Das ist ziemlich lang für ein Land, das keine Lebensfreude exportiert wie Brasilien und keine Autos wie Deutschland und keinen Tratsch wie England. Ein Land, das seinen Nationalstolz speist aus etwas Tango, der Erinnerung an Evita und dem Fußball. Am Rio de la Plata hat Fußball seit jeher eine andere Bedeutung. Er dient als Betäubungsmittel und Aphrodisiakum, als Zugang zur Welt und Parabel für den Seelenzustand der Nation. Er muss das Land aus Krisen ziehen und stürzt es wieder hinein. Er diente der Militärdiktatur bei der WM 1978 als Propagandabühne und dem Volk 1986 als Vergeltungsschlag gegen England. Nur in Argentinien kann der Fußball eine Mythengestalt hervorbringen, die geliebt wird wie Evita und verehrt wie Che Guevara, die beiden anderen Nationalhelden, die früh in Berührung kamen mit dem Tod.
In diesen Tagen vor der WM
herrscht in Argentinien jene landestypische Anspannung, die so schnell Platz macht für die Euphorie wie für die tiefe Melancholie. Die Wirtschaft wächst mit acht Prozent, aber sie sind zu oft enttäuscht worden von der Wirklichkeit. Die Exporte boomen, aber aufs Ausland, so haben sie gelernt, kann man sich nicht verlassen. In alten Cafés, unter den Wimpeln von Fußballvereinen, diskutieren Männer über die WM mit dem skeptischen Blick des Tangueros, des Tangosängers, der hinter der nächsten Ecke schon den Betrug wittert. Im Parlament diskutieren Abgeordnete, ob man während der WM die Schulen schließen sollte, weil Argentiniens Kinder ohnehin vor dem Fernseher hocken würden. Die Plätze in den Bars mit Namen wie "Verrückt nach Fußball" sind schon jetzt ausverkauft. Aber es sind keine normalen Bars. Sie sind wie kleine Stadien. Sie haben acht Großleinwände und 50 Monitore, eigene Tribünen und eine Halbzeitshow. Sie sind konstruiert für den Fußball, für die Ekstase, sie sagen: für die argentinische Seele.
Über den breiten Avenidas der Hauptstadt werben Unternehmen auf riesigen Plakaten in Hellblau und Weiß mit dem Nationalteam. Aber sie werben nicht mit einem Star, sondern mit der Mannschaft. Sie werben nicht mit bekannten Gesichtern, sondern mit der jubelnden Spielertraube. Die Slogans heißen nicht "Vamos Argentina", sondern "Unendliche Liebe" und "Uns eint die Leidenschaft". Das Team muss nicht nur siegen. Es muss wieder einmal das Land einen, jene 3330 Kilometer lange Republik, die von der Wüste im Norden zum ewigen Eis Patagoniens reicht, jene 37 Millionen Bürger, die gespalten sind in Peronisten und deren Gegner, in Anhänger der großen Vereine Boca Juniors und River Plate, in die Wohlhabenden von Buenos Aires und die "Hemdlosen" des Umlands.
In Villa Fiorito, jenem Armenviertel, in dem Maradona aufwuchs, ist der Aufschwung nicht angekommen. Viele Spieler der Selección stammen aus Slums wie diesem, auch die Stars Riquelme und Tevez. Ihre Bewohner leben vom Müll. Auf Pferdekarren und Kleinlastern fahren die "Cartoneros" in die Stadt und bringen den Kindern Berge voller Kartons und Plastik zur Mülltrennung nach Hause. Fragt man diese Kinder nach einem Ausweg, so sagen sie lange nichts und irgendwann mal Fußball. Doch die Geschichte vom Fußball, der sie aus der Armut holt, ist eine Fabel, ein entfernter Traum, eine Medienerfindung. Die Kinder haben keine Zeit fürs Training, sie müssen arbeiten. Nur ganz wenige, die Besten, spielen in Trikots, auf einem Betonplatz. Daneben, im Sand, zwischen Scherben, spielen schon die Ärmeren. Und daneben, in Gruben des Mülls, torkeln die Gescheiterten und schnüffeln an Tüten mit Klebstoff. In Zeiten, da Spielervermittler schon Achtjährige unter Vertrag nehmen, wissen die anderen Achtjährigen, dass aus ihnen nie ein Maradona werden wird, und so verlängern sie ihre Illusion mit Klebstoff und Wein.
Wenn es einer schaffen kann aus Villa Fiorito, dann Emiliano. Er spielt im Verein "22. Februar". Er ist gerade acht, den Mund voller Zahnlücken, seine Beine verschwinden in langen Shorts. Er umspielt seine Gegenspieler mit jener Mischung aus Raffinesse und Täuschung, die Argentinier gern als ihren Nationalcharakter beschreiben. Seine Tore feiert Emiliano mit dem Hüftschwung Ronaldinhos. Am Rand stehen Spielervermittler, mit Sonnenbrille und Notizblock. Sie haben Emilianos Eltern zunächst etwas Kleidung geboten für die Rechte an ihrem Sohn. Dann ein paar Schuhe. Schließlich etwas Kleingeld. Jahr für Jahr werden so in Argentinien 25 000 Kinder gescoutet. Mit Glück nimmt sie ein Agent unter Vertrag und vermittelt sie an "Semilleros", die "Brutstätten" der Vereine, und weiter nach Europa. Die Kinder sind Argentiniens Rohstoff der Neuzeit, Exportartikel, erprobt in Hitze und Dreck, Tänzer und Kämpfer, ein Millionenversprechen. Emilianos Mutter Veronica Acua sagt: "100 Pesos im Monat" - 25 Euro - "sollten es für Emiliano schon sein. Europa wäre das Größte." Emiliano selbst sagt: "Ich gehe auch nach Deutschland. Aber ich will dort nicht wie die Deutschen spielen, sondern wie Tevez. Oder Maradona."
Maradona selbst kündigt seinen Nachfolger regelmäßig an. Er nannte Aimar den neuen Maradona, bevor er Saviola als neuen Maradona ausrief, dann Messi und Agüero. Er weiß, dass seine Worte gleichzeitig ein Segen sind und ein Fluch. Es wird in Argentinien keinen mehr geben wie ihn. Er darf von den Geknechteten des Volkes reden und dabei weiße Chinchillajacken tragen. Er darf sich den Kopf vollkoksen und die Schuld daran bei der CIA finden. Er darf den Kapitalismus anklagen und für ein Interview 25 000 Dollar fordern, und das tut er jetzt. Er steht im Tunnel des Stadions "El Coloso" und sagt, dass er nichts sagen will, ciao. Er sagt erst etwas ab 25 000 Dollar. Für 170 000 Dollar spielt er schon mal eine Partie Fußball. Ansonsten, ciao.
Sein jüngster Nachfolger steht vor dem weiß getünchten Haus des Trainingszentrums am Rand von Buenos Aires. Lionel Messi, 18 Jahre, 1,70 Meter klein, Weltmeister der U-20-Junioren, Champions-League-Sieger mit dem FC Barcelona, das Wunderkind. Die Reporter schreiben, er könnte der Superstar dieser WM werden. Er ist schüchtern und sagt, dass er sehr schüchtern sei. Er sagt, er sei kein Maradona, das dürfe man nie behaupten, Diego sei unvergleichbar. Messi ist 150 Millionen Euro wert, aber er trägt die Jugend noch in sich. Er hat die Rentenverträge schon in der Tasche, blickt aber noch immer mit ungläubigen Augen auf die Schar weiblicher Fans. Er trägt einen fransigen Pony, die Jacke ist zu groß, seine Finger spielen mit dem Saum. Er kann nicht viel sagen zum schnellen Ruhm und Che Guevara und dem eigenen Land. Er hat noch nicht richtig gelebt. Das einzige Buch, das er je las, war "El Diego". Er ist in Rosario aufgewachsen und mit fünf entdeckt worden und mit 13 zu Barcelona gegangen und sucht jetzt seinen Gameboy und verabschiedet sich höflich.
Die anderen Spieler warten
schon und geben ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Sie wirken alle ein bisschen wie Messi, höflich, bescheiden, der Gegenentwurf zu Maradona. Am höflichsten ist der Nationaltrainer selber, José Pekerman. Er war mal Taxifahrer, bevor er Jugendtrainer Argentiniens wurde und eher zufällig Chefcoach. Er spricht nicht besonders gern, und wenn er doch spricht, wägt er die Worte vorsichtig ab, sodass sich keiner an ihnen verletzt. Als Maradona kritisierte, dass er den allerjüngsten Maradona, den 17-jährigen Agüero, nicht mit nach Deutschland nahm, sagte er nichts. Er will keinen Maradona in seinem Team. Er sieht nur das Kollektiv. Er fährt einen Kleinwagen und teilt sein Gehalt mit Co-Trainern, und wenn er gesprächiger ist, wie an diesem Mittwochabend im mondänen Stadtteil Núñez, so spricht der hagere Mann mit den langen grauen Haaren von der großen Sehnsucht des Volkes nach dem Titel und der großen Zuneigung, die die Spieler in ihren Herzen tragen, und für einen Moment klingt José Pekerman wie ein Poet.
Wenn Pekerman den Titel nicht gewinnt, werde man ihm in Argentinien den Kopf abreißen, hat Maradona angekündigt. Es klang wie ein heimlicher Wunsch. Denn dann muss ein Neuer her, um die Ehre der Nation zu retten.
Und das kann nur einer sein.