P. Köster: Kabinenpredigt Ein paar unangenehme Wahrheiten über die verpasste Revolution bei der Nationalelf

Fußball Nationalelf Abschlusstraining
Die Stimmung rund um die deutsch Fußballnationalelf könnte etwas sonniger sein
©  Jan Woitas / DPA
Kurz vor der Weltmeisterschaft zeigt die Formkurve der Nationalelf nach unten. Die angebliche Trendwende unter dem neuen Coach Hansi Flick war nur eine Fiktion. Höchste Zeit also für ein paar unangenehme Wahrheiten. Sagt stern-Stimme Philipp Köster 

Selten sah man Hansi Flick so ratlos wie vor ein paar Tagen, als er nach der ersten Halbzeit im Nations-League-Spiel gegen Ungarn gefragt wurde. "Sehr schlecht" sei die gewesen, sprach der Bundestrainer melancholisch, um dann aber gleich wieder in den Hoffnungsmodus umzuschalten. "Die Mannschaft ist wach gemacht worden" versprach Flick im Duktus einer Mutter schulpflichtiger Kinder morgens um sieben Uhr: "Die Augen wurden jetzt geöffnet."

Doch was in der zweiten Hälfte zu sehen war, mutete nicht viel erbaulicher an. Die deutsche Elf gab sich zwar engagierter, rannte sich aber regelmäßig in der geschickt gestaffelten ungarischen Abwehr fest, ohne dem Tor nennenswert näher zu kommen. Das fruchtlose Umzingeln der Defensive etwa zwanzig Meter vor dem Tor nährte die Sehnsucht der Anhänger nach dem schon länger vermissten klassischen Sturmtank. Vor allem aber fragte sich jeder, der dem unerquicklichen Schauspiel zusah, unwillkürlich, wohin sich eigentlich der Aufbruchsgeist, der bei den ersten Spielen unter Hansi Flick die Mannschaft beflügelt hatte, verflüchtigt hat?

Der maue Kick gegen Ungarn und streng genommen auch die zahlreichen Remis-Partien zuvor ließen stattdessen die Vermutung aufkommen, dass es sich bei der vielbejubelten Kehrtwende nach der langwierigen Demission von Weltmeistertrainer Löw nur um eine gemeinschaftliche Autosuggestion handelte. Denn die strukturellen Probleme, die die Nationalelf seit vielen Jahren mit sich herumschleppt, sind bei Licht besehen immer noch die gleichen, auf und neben dem Platz.

Das Standing der Nationalelf in der Öffentlichkeit bleibt mau

Da ist das allgemeine Standing der Nationalelf in der Öffentlichkeit. Da mag sich der DFB unter dem neuen Präsidenten Bernd Neuendorf wirklich und glaubwürdig mit den politischen und moralischen Klippen der anstehenden WM in Katar auseinandersetzen, auf das PR-Konto der Mannschaft hat das nicht eingezahlt. Was an kuriosen Aktionen liegt wie jener, Manuel Neuer mit einer Armbinde auszustatten, auf der ein Herz, eingefärbt in allen Schattierungen eines Wasserfarbkasten angeblich für Vielfalt und gegen Diskriminierung stehen soll, der Verzicht auf die viel näherliegenden Regenbogenfarben aber aussah wie ein weiteres hasenfüßiges Einknicken vor den Befindlichkeiten des Gastgebers. Was aber auch durch Interviews wie dem von Nico Schlotterbeck befördert wird, der angesichts des nahenden Katar-Turniers achselzuckend feststellte: "Wir Spieler können aus meiner Sicht ohnehin wenig beeinflussen!" Nun sind Profikicker keine Menschenrechtler, etwas vielschichtiger könnten die Nationalspieler ihre Rolle dennoch reflektieren.

Schwerer noch wiegen allerdings die Defizite auf dem Platz, die ja nicht allein mit einem Knipser vorne drin behoben wären. Es fehlt ganz generell an Zug zum Tor, an Konsequenz im Abschluss. Das gefällige Spiel bis zur Strafraumkante ist für disziplinierte Teams viel zu leicht zu verteidigen. Die populäre Meinung, Hansi Flick habe mit den zahlreichen Spielern des FC Bayern auch die Probleme des Rekordmeisters importiert, klingt zwar einleuchtend, verdeckt aber den Umstand, dass in der deutschen Trainingslehre schon seit langer Zeit der klassische Mittelstürmer kein Ausbildungsberuf mehr ist. Was den Bundestrainer heute immer wieder auf Timo Werner zurückgreifen lässt, der seine stupende Schnelligkeit leider nicht mit entsprechender Technik zu kombinieren weiß. Es gibt keinen anderen, auch auf Sicht nicht.

Und weil sich zu den Schwächen im Aufbauspiel eine notorisch wacklige Defensive gesellt, wird die deutsche Elf in Katar nicht über spieltaktische Überlegenheit punkten können. Stattdessen müsste sich Begeisterung und Elan durch eine andere Art mannschaftlicher Kraft und Geschlossenheit entwickeln, die es allerdings derzeit nicht gibt. Zwar sind die Gräben zwischen den mannschaftsinternen Cliquen längst nicht so tief wie noch in Russland, aber es rächt sich eben doch, dass sich Hansi Flick bei seinem Amtsantritt für einen sanften Übergang entschied, anstatt sich auch nach außen hin und in der gesamten Arbeit mit den Spielern deutlich von seinem Amtsvorgänger abzusetzen.

Zu verlockend war, die gesamte Misere in der Spätphase der Ära Löw ausschließlich am Trainer festzumachen. Wie in München als Nachfolger von Nico Kovac wollte der neue Coach allein durch mehr Empathie und mehr Leidenschaft als der zuletzt apathische Löw die Mannschaft wieder auf Kurs bringen. Dabei hätte es eines echten Neubeginns bedurft – in der Eigenwahrnehmung, im Verhältnis zum Publikum, vor allem aber auf dem Platz.

Für einen Neustart bei der Nationalelf ist es inzwischen zu spät

Für einen solchen Neustart ist es nun zu spät. Nicht aber für die Einsicht, dass die Nationalelf sich zunächst selbst begeistern muss, um ihr Publikum für sich zu gewinnen. Dafür bleiben noch wenige Wochen. Aber eine Hoffnung gibt es, Hansi Flick hat sie formuliert: "Die Mannschaft ist jetzt wach!"

kng

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