In der 15.Minute des Spiels gegen Borussia Dortmund atmeten die Mainzer Zuschauer erleichtert auf. Keeper Jerry St. Juste hatte den Ball souverän unter sich begraben und würde nun gleich mit einem weiten Abwurf das Spiel schnell machen. Dann aber begriffen die Anhänger die optische Täuschung. St. Juste ist nämlich gar kein Torwart, sondern Abwehrspieler.
Dass Schiedsrichter Benjamin Cortus nicht auf Strafstoß entschied, weil er die Fallbewegung des Mainzer Abwehrspielers als natürlichen Reflex ansah und darin auch noch von seinen Kollegen im Kölner Keller bestätigt wurde, war eine Farce, angesichts der zahllosen Fälle, in denen Referees bei weitaus „natürlicheren“ Handbewegungen umgehend auf den Punkt zeigten. Zugleich war die Diskussion über das Mainzer Handspiel aber auch nur eine von unzähligen Debatten, die der Videobeweis in dieser Saison ausgelöst hat.
Diskussionen trotz Videobeweis immer schärfer
Klar ist: Die optimistische Prognose der Funktionäre, der VAR werde in dieser Saison Normalität und als hilfreiches Instrument wahrgenommen, haben sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, die Diskussionen werden mit zunehmender Schärfe geführt. Und es ist deutlich wahrnehmbar, dass die Videoüberwachung auch bei früheren Befürwortern an Akzeptanz verloren hat. Schiedsrichter wie Manuel Gräfe und Sportdirektoren wie Jörg Schmadtke halten den VAR in der gegenwärtigen Verfassung für wenig hilfreich.
Beide sind keine Fußballromantiker. Was klar macht, dass sich die bisherigen Frontlinien zwischen unverbesserlichen Traditionalisten und fortschrittlichen Pragmatikern verschoben haben. Denn auch jenen, die nach wie vor beharrlich glauben, der Fußball sei nunmehr wesentlich gerechter, dämmert langsam, dass der Preis für ein paar Fehlentscheidungen weniger deutlich zu hoch ist.
Denn der VAR hat eines der wichtigsten, vielleicht sogar das zentrale Stadionerlebnis zerstört, nämlich die Tore und den anschließenden gemeinsamen Jubel von Spielern und Publikum. Jenen Moment, in dem sich früher pure Emotion zeigte. Das gemeinsame Bangen, die Ahnung des Einschlags, das hochgeschleuderte Netz und schließlich der gemeinsame Schrei aus tausenden Kehlen- das war früher das Hochamt der Stadiongänger, der Augenblick, in dem sich ein Energiekreis zwischen Spielern und Anhängern schloss.
Videobeweis zerstört den Moment
Heute ist dieser Moment nur noch eine flüchtige Ahnung früherer Ekstase. Spieler wie Fabian Lustenberger erzählen, wie sie nach jedem Treffer erst einmal zum Schiedsrichter blicken, ob der sich nicht doch ans Ohr greift. Spieler überlegen sich zweimal, ob sie jubeln, um nicht mitten im Jubel zurückgepfiffen zu werden. Und auf den Rängen hat man gelernt, dass auch noch zwei Minuten nach einem Tor der Spielstand plötzlich zurückgedreht werden kann. Wer derlei unwürdige Spektakel ein paar Mal miterlebt hat, spart sich beim nächsten Mal die Ekstase.
Zumal es offenbar bis heute nicht möglich war, eine klare Linie in die Entscheidungen zu bringen. Bei der Frage, welche Handspiele strafbar sind, ist die Verwirrung derzeit größer denn je. Noch schlimmer jedoch ist die Hybris, mittels kalibrierter Linien über knappe Abseitsstellungen entscheiden zu wollen. Fakt ist: Angesichts der derzeitigen, noch zu geringen Frame-Rate der Kamerabilder grenzt derlei vorgetäuschte Akribie an Trickbetrügerei. Beim Kick von Werder Bremen gegen den SC Paderborn vor einer Woche führte die willkürliche Linienzieherei dazu, dass nach einem vermeintlichen Abseitstor sich schon alle Beteiligten auf eine torlose Punkteteilung verständigt hatten, als nach endlosen drei Minuten Beratungszeit doch auf Tor entschieden wurde - Werders Ludwig Augustinsson hatte angeblich das Abseits mit der Hacke aufgehoben.
Grundlegende Änderungen sind nötig
Natürlich wird sich keiner der DFB-und DFL-Verantwortlichen die Blöße geben wollen, den Kölner Keller wieder zum Geräteschuppen umzuwidmen. Aber der VAR muss, um wenigstens ein bisschen Akzeptanz zu erfahren, grundlegend Richtung und Methode ändern.

Was bedeutet: Keine ständigen Interventionen, sondern Konzentration auf wesentliche Entscheidungen! Schluss mit der Scharlatanerie rund um vermeintliche Zentimeterentscheidungen und stattdessen im Zweifel für die Stürmer entscheiden! Und vor allem: Kürzere Beratungen. Was innerhalb von 60 Sekunden nicht beurteilt werden kann, ist so strittig, dass die erste Entscheidung des Schiedsrichter gelten muss.
All das wäre eine letzte Chance für den Videobeweis. Die Funktionäre sollten ihn nutzen.