Luca Kilian, Innenverteidiger beim Bundesligisten 1.FC Köln, ist ein physikalisches Wunder. Er verfügt nämlich als einziges Lebewesen über Augen am Hinterkopf, die ihn im Bundesligaspiel gegen den 1.FC Union den herannahenden Kopfball des Berliner Stürmers Robin Knoche abwehren ließ. Klingt absurd? Nun ja, diese Anomalie muss Schiedsrichter Benjamin Cortus vorausgesetzt haben, um entlang der beiden Kriterien "Absichtliches Handspiel" oder "Unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche" auf Strafstoß zu entscheiden. Und damit nicht genug: Auch die Kollegen aus dem Kölner Keller billigten Kilian seherische Fähigkeiten zu. Es blieb beim Elfmeter.
Es war nur eine von zahlreichen umstrittenen bis bizarren Entscheidungen, die am Wochenende im Wechselspiel zwischen Schiedsrichtern und Kölner Keller getroffen wurden. Werder Bremen bekam allen Ernstes einen Strafstoß, weil Marvin Ducksch seinem Augsburger Kontrahenten Maximilian Bauer den Ball aus kurzer Entfernung mit Wucht an den Oberarm geballert hatte. Und im Spiel bei Hertha BSC warf sich Leverkusens Odilon Kossounou zwei Meter vor der Torlinie so in einen Schuss, dass der pendelnde rechte Arm blockte. Ein absichtliches Handspiel und ein klarer Strafstoß, was Schiedsrichter Bejnjamin Brand allerdings auch nach dem Spiel trotz eindeutiger Fernsehbilder in fast amüsanter Bockigkeit verneinte.
Köln-Coach Steffen Baumgart erkennt "Verarsche"
Über diese drei strittigen Handspiele wurde in Nachgang der Partien mit erstaunlicher Heftigkeit gestritten. Einerseits in den Stadien, wo beispielsweise Kölns Coach Steffen Baumgart eine "Verarsche" erkannt haben wollte, wie auch im Internet, wo teils die Emotionen so überschwappten, dass die Schiri-Erklärer der "Collinas Erben" kurzerhand ihren Twitter-Account deaktivierten.
Eine Maßnahme, die allgemein als Protest gegen den rüden Umgangston in den sozialen Medien gewertet und bedauert wurde – völlig zu Recht. Es ist aber auch zu beobachten, dass die videogestützten Schiedsrichterpfiffe regelmäßig besonders aggressiv kommentiert werden, weit mehr als alles andere, was auf und neben dem Platz so passiert.
Videobeweis hat in dieser Form jeden Kredit verspielt
Was auch klar macht: Der Videobeweis hat in der derzeitigen Form jeden Kredit verspielt: Einst eingeführt, um den Fußball gerechter und transparenter zu machen, erscheint er heute als Instrument der Willkür und der Begünstigung. Die Idee der Überprüfung anhand von unbestechlichen Fernsehbildern und nüchternem Blick von Fachleuten gilt heute als amateurhaft konzipiert und dilettantisch umgesetzt.
Nun war von Beginn an klar, dass der Videobeweis einige zentrale Stadionerlebnisse beschädigen würde. Das betrifft insbesondere den Moment der gemeinsamen Feier nach erzielten Treffern. Es ist inzwischen traurige Realität, dass in den Stadien nicht mehr ansatzweise so eruptiv gejubelt wird wie vor Einführung des Videobeweises. Anstatt seine Freude herauszuschreien und den Nebenmann zu umarmen, schielt der Fan zum Referee, ob der nicht angestrengt in sein Headset lauscht oder bereits den berüchtigten Kasten in die Luft malt.
Umfassende Gerechtigkeit bleibt Wunschtraum
Dieser Verlust an großen Gefühlen sollte jedoch kompensiert werden durch eine neue und umfassende Gerechtigkeit. Groteske Fehlentscheidungen, ob bei Handspielen, Abseitspositionen oder Tätlichkeiten, sollten der Vergangenheit angehören. Doch der Glaube an die Technik und daran, aus einem Kölner Keller schnell und kompetent die Spiele begleiten zu können, erwiesen sich als Hybris.
Es fehlte stattdessen von Beginn an allem. Sei es an klaren Kriterien, wann sich die Supervisoren überhaupt zu Wort melden. Sei es an ausgereifter Technik, um etwa Zentimeterentscheidungen bei Abseitspositionen glaubhaft begründen zu können. Sei es an Schnelligkeit, um nicht jede zweite Entscheidung zu einem endlosen Geduldsspiel für die Zuschauer im Stadion werden zu lassen. Sei es an Kritikfähigkeit bei offensichtlichen Fehlurteilen. Und sei es an gelungener Öffentlichkeitsarbeit, die die Schiedsrichtergilde für überflüssig hielt und zahlreiche Ressentiments und Vorurteile beförderte.
Es helfen nur radikale Lösungen
Die Mängelliste ist noch länger und macht klar: So wie derzeit darf der Videobeweis nicht bleiben und es helfen nur radikale Lösungen. Entweder ist die Liga mutig und entscheidet sich für eine Abschaffung der Videokontrolle mit Ausnahme der Torlinientechnologie. Das würde allerdings auch bedeuten, dass sich die Anhänger mit der einen oder anderen Fehlentscheidung mehr arrangieren müssten. Oder die Liga entscheidet sich für eine grundlegende Reform, mit deutlich erhöhter Eingriffsschwelle, mit verpflichtender Öffentlichkeitsarbeit und Transparenz, mit hohen Investitionen, um etwa die automatische Abseitserkennung voranzutreiben und einer deutlichen Stärkung des Unparteiischen, der nicht mehr länger der Erfüllungsgehilfe der Videoassistenten sein darf.
So jedenfalls wie gerade kann es nicht weitergehen. Um das festzustellen, braucht es keine Videokontrolle.