stern-Interview mit Marcel Reif Reif: "Kritik ist wie Gotteslästerung"

TV-Reporter Marcel Reif über Diven im Fußball, Kahns Frust und Völlers Stil

Herr Reif, Carsten Ramelow ist nach dem 1 : 5 gegen Rumänien heftig kritisiert worden - jetzt hat er seinen Rücktritt aus der Nationalelf bekannt gegeben. Sind deutsche Auswahlspieler Mimosen?

Es ist auf jeden Fall ein klarer Trend zur Gereiztheit im deutschen Fußball feststellbar. In der jüngeren Vergangenheit gibt es viele Beispiele für die mangelnde Kritikfähigkeit der Branche. Völlers Brandrede nach dem Island-Spiel etwa, in der er die Kritiker Netzer und Delling beschimpfte. Und manche Spieler wie Michael Ballack reagieren mit einem Interview-Boykott, bloß weil der ARD-Kollege Reinhold Beckmann das 3: 0 im Länderspiel gegen Belgien nicht bejubelt hatte. Fakt ist: Dem deutschen Fußball fehlt es derzeit an Klasse, und zudem verkauft er sich schlecht.

Tatsächlich? Nach der Rumänien-Pleite Ende April bemühte sich Rudi Völler sehr um Schadensbegrenzung. Statt Spieler öffentlich zu attackieren, hat er sich schützend vor seine Mannschaft gestellt.

Genau das war ja der Fehler. Vielen jungen Spielern fällt es schwer, zwischen öffentlicher und interner Kritik zu unterscheiden. Die denken: Och, wenn der Trainer nur im kleinen Kreis ausflippt, kann die Lage so schlimm nicht sein. Der Alte wird sich schon wieder beruhigen. Manchem Profi würde es gut tun, auch mal vor laufender Kamera angegriffen zu werden. Das schärft den Realitätssinn.

Der ist den Fußballern verloren gegangen?

Die Spieler sind durch das Bosman-Urteil mächtiger geworden. Das drückt sich nicht nur in der Explosion ihrer Gehälter aus, sondern auch in einer gewissen Divenhaftigkeit. Überspitzt gesagt: Kritik wird als Gotteslästerung empfunden. Außerdem gelingt vielen Trainern nicht, ihre Spieler auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Sie sind hilflos. Und wir, die Medien, tragen auch eine Mitschuld an dieser Entwicklung.

Inwiefern?

Teilweise ist die Berichterstattung nicht kompetent genug. Fehlende Fachlichkeit führt zu einer berechtigten Verärgerung der Betroffenen. Ich möchte diesen Punkt aber nicht weiter vertiefen, weil ich der Meinung bin, dass man Spielern alles geben darf, nur kein Alibi.

Nach seiner Auswechslung im Rumänien-Spiel verkroch sich Oliver Kahn im Mannschaftsbus - aus Protest gegen die Leistung der eigenen Vorderleute. Er soll erst zum Vorschein gekommen sein, als er per Handy erfuhr, dass der ZDF-Reporter Bela Rethy seine Flucht öffentlich gemacht hatte.

Ein souveräner Kapitän distanziert sich nicht von seinem eigenen Team. Oliver Kahn hat nicht nur gegen Rumänien ein schwaches Bild als Chef abgegeben. Auch bei den Bayern. Gegen Stuttgart wirft er demonstrativ die Handschuhe ins Gras und hat dabei offenbar erfolgreich verdrängt, dass er selbst es war, der eine Woche zuvor mit seinem Patzer die Niederlage gegen Bremen eingeleitet hatte. Wenn Kahn nach diesem Spiel vor die Mikrofone getreten wäre und gesagt hätte: Wir alle haben heute echten Mist gespielt und ich ganz besonders - das wäre professionell gewesen.

Der ehemalige Hertha-Trainer Huub Stevens hat mal versucht, das Fernsehen strategisch für sich zu nutzen. In Anwesenheit eines Kamerateams machte er seine Mannschaft nieder. Stevens wurde einige Wochen später in Berlin entlassen.

Wenn Kritik konstruktiv und nicht vernichtend sein soll, muss sie fein dosiert werden. Vielleicht gibt es zu wenig Übungsleiter in Deutschland, die den Ton treffen. Bei jungen Trainern wie Thomas Schaaf, Klaus Augenthaler und Matthias Sammer liegt die eigene aktive Karriere noch nicht weit zurück, sie wissen genau, wann und wo Kritik angebracht ist.

Rudi Völler ist auch ein junger Trainer...

...ja, aber er unterscheidet sich sehr von seinen Altersgenossen. Völler ist ein extrem harmoniebedürftiger Mensch, der im Notfall alle Schuld auf sich nimmt. Was einer Mannschaft allerdings nicht immer weiterhilft. Doch Völler ist lernfähig, und er hat einen guten Draht zum Team. Bei den älteren Trainern habe ich manchmal den Eindruck, dass sie die Spieler nicht mehr verstehen. Da klappt der Dialog zwischen den Generationen nicht.

Sie sind 54 Jahre alt, seit 18 Jahren Fußballreporter, gerade haben Sie Ihre Autobiografie veröffentlicht. Verstehen Sie die heutigen Spieler noch?

Ich hoffe doch. Bloß merke ich, dass mir die Lust auf Interviews immer mehr vergeht. Mir reicht, was ich auf dem Rasen sehe.

Interview: Christian Ewers

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