Jens Lehmann ist sich keiner Schuld bewusst, Franz Beckenbauer fordert Konsequenzen - doch Rudi Völler lehnt weiter eine schnelle Entscheidung im Torwart-Streit ab. Der DFB-Teamchef drängt angesichts des gewaltigen Echos, das die neuen Lehmann-Attacken gegen Stammtorhüter Oliver Kahn ausgelöst haben, auf eine Versachlichung der Debatten. Zugleich bekräftigte er, vor einer Entscheidung über eine eventuelle Verbannung von Lehmann aus dem EM-Kader den Dialog mit dem Torhüter des FC Arsenal suchen zu wollen. "Ich werde in Kürze in London sein, dann wird das klärende Gespräch stattfinden", sagte Völler am Freitag. Weiter wollte er sich über den Zwist seiner beiden Keeper nicht mehr äußern: "Es ist alles gesagt, was zu sagen ist."
Beckenbauer fordert Rausschmiss von Lehmann
Ersatzmann Lehmann hatte mit neuen Attacken gegen Kahn, die bis in den Privatbereich gehen, nach dem 2:1 im Testspiel gegen Kroatien für eine Zuspitzung der Torwart-Fehde gesorgt. "Rudi Völler muss sich ernsthaft überlegen, Konsequenzen zu ziehen. Sonst besteht in den vier, fünf Wochen der Vorbereitung und der EM ständig Explosions- Gefahr. Einen solchen Brandherd muss man löschen, ehe er sich zum Flächenbrand entwickelt", meinte Deutschlands Fußball-"Kaiser" und Bayern-Präsident Beckenbauer zu den emotionalen Diskussionen.
"Ich fürchte, es wird keine Ruhe mehr geben. Und diese Spannungen können schnell auf die Mannschaft übergreifen", ergänzte er mit dem Hinweis auf die WM 1986 in Mexiko. Damals hatte er als DFB-Teamchef den meuternden Uli Stein nach Hause geschickt, als der sich nicht mit seiner Ersatzrolle hinter Toni Schumacher anfreunden konnte und gegen den Konkurrenten sowie Beckenbauer ("Suppenkasper") gestänkert hatte.
Lehmann versteht die Fußball-Welt nicht
Lehmann kann die Aufregung um seine Aussagen über seine Unzufriedenheit («Meine Leistung ist konstanter») und seinen Rivalen («Ich habe keine 24-jährige Freundin, ich habe ein anderes Leben») nicht verstehen. "Komisch: Wenn Kahn mich beleidigt und mir Kindergarten-Niveau vorhält, weil ich sportliche Ansprüche anmelde, wird das locker übergangen", reagierte Lehmann auf die Beckenbauer- Kolumne in der "Bild"-Zeitung. Und: "Warum sollte mich der Teamchef rauswerfen? Ich habe mich korrekt verhalten. Es war nicht meine Absicht, privat zu werden und bin es auch nicht geworden."
Meyer-Vorfelder hält sich bedeckt
DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder wurde bei einer FIFA-Tagung in Zürich vom verschärften Ton im Torwart-Streit unterrichtet, wollte sich aber nicht in den Entscheidungsprozess um Lehmanns Zukunft einmischen. Diese Entscheidung bleibt allein Völler vorbehalten, der vor allem die Einhaltung des Ehrenkodex im Nationalteam eingefordert hatte: "Privates hat in der Öffentlichkeit nichts verloren." Genau dies aber hatte Lehmann mit dem Hinweis auf Kahns neue Freundin Verena (22) getan. "Wir können keine Unruhe gebrauchen", stellte Bundestrainer Michael Skibbe mit Blick auf die EM-Endrunde vom 12. Juni bis 4. Juli in Portugal nochmals in der "Welt" heraus.
Kahn: "Ich bleibe die Nummer 1"
Lehmann muss in der angekündigten Aussprache mit Völler ein klares Bekenntnis zu seiner Rolle als Nummer zwei im DFB-Team abgeben. Sein größtes Problem dabei: Er ist wie sein Kontrahent 34 Jahre alt, durfte bisher aber nur in 16, meist unbedeutenden Länderspielen ins Tor. Der letzte 45-Minuten-Einsatz gegen Bosnien-Herzegowina liegt schon 16 Monate zurück. Kahn hat 66 DFB-Spiele einschließlich der EM 2000 und der WM 2002 absolviert. Eine Ablösung als Generationswechsel kann es nicht geben. Kahn kündigte bereits deutlich an: "Ich habe mit Rudi Völler gesprochen: Ich bin die Nummer 1, und ich werde bis zur WM 2006 die Nummer 1 bleiben."
Neuordnung der Torwart-Hierarchie?
Sollte Lehmann, der sein erstes Länderspiel im Februar 1998 in Maskat gegen Oman (2:0) absolvierte, nach sechs Jahren seine Aufgabe als Kahn-Ersatz nicht mehr akzeptieren, müsste Völler die Torwart- Hierarchie neu ordnen. Der Schalker Frank Rost, in der Bundesliga zuletzt mit den besten Leistungen und 2003 bereits in drei von elf Länderspielen eingesetzt, wäre erster Anwärter auf die Nummer zwei. Timo Hildebrand (VfB Stuttgart) oder Jörg Butt (Bayer Leverkusen) kämen als Nummer 3 in Frage.