Vielleicht haben sie ja tatsächlich nichts gewusst. Aber da Bundestrainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff bekanntlich jedes Detail der Vorbereitung auf wichtige Turniere mit größter Sorgfalt und Raffinesse planen, lässt sich das schwer glauben.
In Sciacca jedenfalls, der sizilianischen Kleinstadt, in deren Einzugsbereich das deutsche Teamhotel fällt, war am Wochenende Karneval. Mit Umzug, gigantischen Pappfiguren, Rumpelmusik, verkleideten Menschen und allem Drum und Dran. Das deutsche Team wurde zwar nicht gesichtet im bunten Treiben, aber ein bisschen vom festlich ausgelassenen Flair dürfte schon herübergeweht sein aus den Straßen von Sciacca. Im Februar war das Fest wegen eines Unglücks ausgefallen, nun wurde es eben im Mai nachgeholt. Sizilianische Improvisationskunst, deren Symbolik auf der Hand liegt: Wenn Karneval im Mai stattfinden kann, dann kann Deutschland auch Weltmeister werden. Obwohl das durch den Ausfall von Michael Ballack nun ein bisschen schwieriger werden dürfte.
Ballack als WM-Maskottchen
Ballack war auch am Dienstag zunächst noch das große Thema, zumal er inzwischen leibhaftig anwesend war im schmucken Verdura Golf & Spa Resort. Mit dem Bundestrainer habe der lädierte Kapitän länger geredet, berichtete Bierhoff, außerdem ein paar Einzelgespräche mit verschiedenen Spielern geführt. "Er möchte seine Nähe zur Mannschaft zeigen", sagte der Teammanager, der in der Vergangenheit nicht immer das beste Verhältnis zum Kapitän hatte, sich aber diesmal in Sachen Lobeshymnen nicht lumpen ließ. Man werde versuchen, Ballack in den nächsten Tagen in irgendeiner Weise einzubinden - und auch in Südafrika sei er natürlich ein gern gesehener Gast. Sieht so aus, als hätte nach England mit Beckham nun auch Deutschland ein WM-Maskottchen.
Sie pflegen ja nicht nur fast manisch zu planen, die Vorsteher des Nationalteams, ihnen ist auch kein psychologischer Kniff fremd. Bergsteiger, Wasserballer, Hockeyspieler haben in der Vergangenheit schon vorgesprochen, Basketballspiele, Uhrmacherlehrstunden wurden abgehalten und sogar Wettbewerbe im Bogenschießen, lange bevor Russell Crowe der Sportart einen neuen Kick verlieh. Auch diesmal haben sie sich einiges ausgedacht. "Wir haben uns natürlich Gedanken gemacht, wie wir die Tage verbringen", sagte Bierhoff.
Keinen Lagerkoller riskieren
Die ursprüngliche Idee vom reinen Regenerationstrainingslager mit Familienanschluss wurde angesichts der knappen Zeit aufgegeben. Es sind anspruchsvolle Trainings- und Fitnesseinheiten vorgesehen, auch wenn die Hauptarbeit ab Freitag in Südtirol stattfinden wird. "Weil wir dort in den Bergen sind, wollten wir vorher irgendwohin, wo es schönes Wetter und Meer gibt", erläuterte Bierhoff. Nach Sardinien 2006 und Mallorca 2008 fiel die Wahl nun auf Sizilien. Jürgen Klinsmanns Idee von der Großstadtnähe, die es den Spielern erlaubt, eigene Wege zu gehen, ist von Löw über Bord geworfen worden. Lieber kehrte man zur alten Tradition des abgeschiedenen Refugiums zurück. "Wir wollten nicht zu viel Abwechslung, es ist wichtig, dass die Spieler Zeit miteinander verbringen", sagte Bierhoff.
Einen frühen Lagerkoller möchte man aber auch nicht riskieren, weshalb ein paar Zerstreuungen schon geplant wurden. So sprach, nachdem beim Training am Dienstagvormittag in kleinen Gruppen Basisarbeit in Abwehr- und Angriffsverhalten geleistet wurde, am Nachmittag der Rugbyspieler Jonah Lomu vor. Er ist legendäres Mitglied der neuseeländischen All Blacks, das seine Karriere wegen einer Nierentransplantation hatte unterbrechen müssen und danach wieder ins Nationalteam zurückkehrte.
Der 35-Jährige hatte Tröstliches aus seinem Erfahrungsschatz zu berichtigen. Auch seinen All Blacks seien einmal vor einer WM kurzfristig der Kapitän und sein Stellvertreter abhanden gekommen, ins Finale schafften sie es trotzdem. Das allerdings verloren sie in Johannesburg gegen Südafrika, wie Clint Eastwoods Film "Invictus" sehr schön zeigt.
Der ehemals beste Rugbyspieler der Welt sollte aber nicht nur Motivation liefern, es war auch ein von ihm geführtes Training mit Übungen aus dem Rugby avisiert. "Enger Körperkontakt ist aber nicht vorgesehen", beruhigte Bierhoff besorgte Gemüter, die schon die nächsten Spieler im Krankenstand sahen. Da Jonah Lomus Rugbystunde eher nichts für die Angehörigen war, ist auch ein Ausflug zur Funsportart Standup-Paddeln vorgesehen, bei der man auf einem Surfbrett im Meer herumpaddelt. "Das ist gut für die Körperstabilität und eine Abwechslung, bei der auch die Frauen und Kinder mitmachen können." Bleibt nur zu hoffen, dass nicht plötzlich Kevin-Prince Boateng auftaucht und ein paar der fröhlichen Paddler ins Meer schubst.
P.S.: Diskutieren Sie das Thema auf Fankurve 2010 der Facebook-Fußballfanseite von stern.de.
Diesen Artikel haben wir für Sie in der Financial Times Deutschland gefunden.