Fußball-WM 2014 Schwalbe? Egal! Brasilien tanzt und feiert

Jan Christoph Wiechmann, São Paulo
Nach dem Auftaktsieg gegen Kroatien herrscht in Brasilien Glückseligkeit. Die Menschen feiern, die WM-Stimmung ist endlich im Land angekommen. Ein lächerlicher Elfmeter soll die Stimmung nicht trüben.

Noch Stunden nach dem Eröffnungsspiel sangen die überglücklichen brasilianischen Fans zwei Lieder. Das eine geht so: "Ich bin Brasilianer, mit viel Stolz, mit viel Liebe." Das zweite geht so: "Ei Dilma, vai tomar no culo." Die Übersetzung ist nicht druckreif.

Mit Dilma ist Dilma Rousseff gemeint, die Präsidentin Brasiliens. Über Fifa-Präsident Sepp Blatter sangen die Fans den gleichen Song. Weder Dilma Rousseff noch Sepp Blatter wagten es, im Stadion Itaquerão die Eröffnungsrede zu halten. Sie mussten damit rechnen, gnadenlos ausgepfiffen zu werden. Also schickten sie stattdessen drei Kinder vor, die drei Tauben in die Freiheit entließen. Frieden, Respekt und Toleranz. Leider torkelten die Tauben nach ihrer Freilassung durchs Stadion und fanden keinen Platz.

Brasilianer singen Hymne voller inbrunst

Vor dem Spiel sang das Stadion ein drittes Lied. Es war die Nationalhymne. Als sie endete, sangen die Menschen einfach weiter. Auch die Spieler sangen weiter. Sie sangen mit Kraft und Leidenschaft. Sie sangen so, wie sie danach auch spielten. Sie hatten schon im vergangenen Jahr beim Confederations Cup einfach weiter gesungen. Aus Liebe zum Land und aus Protest, aus Solidarität mit dem Volk auf der Straße.

Ansonsten war es kein Tag der Proteste in São Paulo. Es war ein Tag der Euphorie. Auch ein Tag der Befreiung. Es gab zwar einige Demonstrationen im Land (über die überall groß berichtet wurde), aber sie fielen in Wahrheit eher klein aus. Sie kamen nicht annähernd an die Massendemos des vergangenen Jahres ran. Zur Großdemo in São Paulo kamen gerade mal 30 Menschen zusammen.

Proteste waren kleiner als sie gemacht wurden

Stattdessen begannen die Menschen ihre Häuser und Gärten zu schmücken. Viele nahmen sich den Tag frei. Bürgersteige wurden bemalt, Trikots gekauft, ganze Straßenzüge blühten in gelb und grün. São Paulo veränderte sich. Überall traf man auf herzliche, hilfsbereite Menschen. Am Flughafen, in den Bussen, am Stadion. Tausende Freiwillige packten an, die Metro fuhr wieder, der Streik wurde unterbrochen, die Menschen lächelten. Das ist die andere Seite Brasiliens, jene die inmitten der Protestberichterstattung selten gezeigt wurde.

Am Stadion gab es ausschließlich friedliche Szenen. Brasilianer umarmten Kroaten. Ein Kroate küsste eine brasilianische TV-Moderatorin, die live auf Sendung war. Kolumbianer feierten mit Neuseeländern. Die chinesische Flagge hing im Stadion neben der japanischen. Menschen verkleideten sich als Maradona und Zico und als WM-Maskottchen. Die Menschen wollten mit Politik und Protest an diesem Abend nichts zu tun haben. "Heute endlich mal Ruhe", meinte ein Besucher. Ein anderer sagte: "Die Proteste sind wichtig und richtig, aber davon hatten wir erst mal genug. Jetzt ist Zeit für Fußball und Feiern."

Zuschauer auf Treppenstufen

Es störte keinen, dass das neue Stadion nicht fertig ist. Einige wenige Zuschauer mussten auf Treppenstufen sitzen. Im Innern des Stadions waren Pappwände gezogen, wo eigentlich Mauern stehen sollen. Auch das Essen war eher aus Pappe und hatte nichts mit Brasilien zu tun, es gab Cheeseburger, Hot Dogs und Popcorn. Aber das sind Kleinigkeiten an einem gelungenen Abend.

Auch für Brasiliens Gegner war es durchaus gelungen. Sie konnten gut beobachten, wo die Schwächen des Gastgebers liegen. Über die Flügel ist Brasilien leicht zu knacken. Die Verteidiger Dani Alves und Marcelo sind schnell auszuspielen, die Abwehr wirkte insgesamt nicht sicher. Holland wird im Achtelfinale seine Freude haben.

Ein lächerlicher Elfmeter

Es gab ein viertes Lied an diesem Abend. Es geht so: "Neymaaaaaar – Neymar Neymar Neymar." Die Fans sangen es bis spät in die Nacht. Neymar war der Held. Neymar spielte mit Herz und unbändigem Willen. Manchmal übertrieb er seine Show etwas, aber das kann nur ein Deutscher so sehen.

Sein Spiel war eine Befreiung - für ihn, für sein Team, für Brasilien, für die Fifa, für Dilma, für die WM, vielleicht für die ganze Fußballwelt. Eine Niederlage gegen Kroatien - die durchaus möglich war - hätte zu allem Möglichen führen können - Ausschreitungen, spontane Gewaltaktionen, Krisenstimmung. Ein ohnehin schon unzufriedenes Volk, das gleich zu Beginn der WM eine Niederlage hinnehmen muss – das war die größte Furcht von Fifa und Politik.

Nur böse Zungen behaupten, dass das wahrscheinlich auch der Schiedsrichter wusste, als er in der 70. Minute den lächerlichen Elfmeter gab.

Jan Christoph Wiechmann, São Paulo

PRODUKTE & TIPPS