Bevor das Boarding für Flug LH 343 nach Frankfurt beginnt, gibt Bernd Neuendorf schnell noch ein paar Sätze zu Protokoll. "Das Ausscheiden schmerzt außerordentlich. Wir müssen trotzdem den Blick nach vorn richten. Wir werden deshalb ein geordnetes Verfahren einleiten, wie wir mit der Situation umgehen", sagte der DFB-Präsident am Freitag im International Airport von Doha.
Was man halt so sagt, wenn man etwas sagen muss, aber eigentlich nichts zu sagen hat.
Bernd Neuendorf, 61, ehemals Staatssekretär im Familienministerium von Nordrhein-Westfalen, seit März dieses Jahres oberster Repräsentant des deutschen Fußballs, will also erstmal darüber befinden, wie genau das WM-Aus der deutschen Männer-Nationalmannschaft aufgearbeitet werden soll – und sich erst dann der Krise selbst widmen. Solche Sätze kennt man vom DFB: Wir haben das Problem erkannt, gebt uns ein bisschen Zeit, dann kommt die Analyse, die natürlich "schonungslos" ausfallen wird. Ohne Rücksicht auf Namen, schließlich geht es um das Wohl des Fußballs.
Wenn der Chef nicht performt, warum soll es dann der Rest?
So ähnlich klang das 2018, als die deutsche Nationalmannschaft bei der WM nach der Vorrunde ausschied, so klang das auch, als sie bei der EM 2021 im Achtelfinale scheiterte. Was den großen Selbstbespiegelungen folgte, war sehr überschaubar: 2018 passierte nichts. 2021 ging Bundestrainer Löw; allerdings wurde er nicht vom DFB entlassen, er entließ sich selbst.
Das Leistungsprinzip ist außer Kraft gesetzt beim DFB, was erstaunlich ist für einen Sportverband, in dem es immer ums nächste Spiel, um Punkte, Tore und Tabellenstände geht. Bundestrainer Hansi Flick teilte unlängst mit, er freue sich auf die Heim-EM 2024; auch DFB-Direktor Oliver Bierhoff sagte, er sehe keine Veranlassung zurückzutreten – "obwohl ich nach drei enttäuschenden Turnieren wenig Argumente habe".
Bierhoff ist seit 18 Jahren für den DFB tätig, unter seiner Führung wurde das Nationalteam 2014 Weltmeister, was ein Verdienst für die Ewigkeit zu sein scheint. Bierhoff ist der survivor im Verband, der Überlebende aller Stürme und Krisen, und das strahlt natürlich nach unten ab, auf die mehr als 500 DFB-Angestellten: Wenn der Chef schon nicht performen muss, warum sollten dann wir?
Beim DFB sind Reformen bloße Behauptungen geblieben in den vergangenen Jahren. Die Energie benötigte man für interne Zwistigkeiten, für die Hahnenkämpfe ergrauter Männer. Seit 2004 standen sieben verschiedene Präsidenten an der Spitze des DFB, Bernd Neuendorf ist nun der achte. Nebenbei galt es noch das Sommermärchen juristisch aufzuarbeiten, die mutmaßlich gekaufte Heim-WM 2006.
Strukturelle Probleme hat der DFB zu lange nicht erkannt
DFB-Direktor Bierhoff richtete derweil dem Männer-Nationalteam ein plüschiges Refugium ein, wenn es zu großen Turnieren ging. Beim WM-Titelgewinn in Brasilien lebte das Team auf einer kleinen Insel, und zuletzt in Katar in einem Wellness-Resort 100 Kilometer vom WM-Zentrum Doha entfernt.
Immer hat es einen deutschen Sonderweg gegeben bei der Quartierssuche. Die Vorbereitung eines G7-Gipfels dürfte sich nicht aufwändiger gestalten als das Scouting des DFB nach einer Herberge für seine A-Nationalspieler. Doch all das lenkt nur ab vom Kerngeschäft, das hat das frühe Scheitern bei der WM 2022 gezeigt. Die Rundumversorgung der Mannschaft ist weltmeisterlich, ihre Leistungen sind es schon lange nicht mehr.
Seit dem Rücktritt von Miroslav Klose 2014 vermisst das Nationalteam einen Mittelstürmer, ebenso fehlen konkurrenzfähige Außenverteidiger. Für den DFB offenbar ein unglücklicher Zufall, eine Laune der Natur – dass sich dahinter ein strukturelles Problem verbirgt, dass die Talentförderung neu justiert werden muss, wollte man langezeit nicht erkennen. Das hätte Umbauten erfordert, neue Köpfe in Führungspositionen auch, aber so funktioniert der DFB nicht. Er belohnt Treue, nicht Leistung.
Fans vom Fußball entfremdet
Zur Krise auf dem Rasen kommt nun auch eine sportpolitische. Die beiden WM-Wochen in Katar haben gezeigt, wie heftig der erlittene Bedeutungsverlust des DFB im Weltverband Fifa ist. Der DFB, mit sieben Millionen Mitgliedern größter nationaler Sportverband der Welt, wird nur als eine Stimme von vielen wahrgenommen. Das Verbot der One-Love-Binde durch die Fifa ist auch als Schlag auf den erhobenen Zeigefinger der Deutschen zu verstehen. Der DFB ist keine Instanz mehr, nur noch ein Scheinriese.
Überhaupt, die Binden-Debatte: Neuendorf und Bierhoff haben die Wucht des Themas völlig unterschätzt. Ihre Erwartung war offenbar, dass man ein bisschen für Menschenrechte und Diversität Werbung macht, Applaus dafür bekommt und dann nur noch Fußball spielt in Katar. Es sollte dann völlig anders kommen: In der Heimat, in Deutschland, wünschte man sich offenbar eine Mannschaft, die wie eine NGO für das Gute kämpft. Und in Katar hingegen fühlte sich der WM-Gastgeber unfreundlich belehrt und angegriffen. Es war zu wenig und zu viel zugleich, was die Deutschen mit ihrer Binde wollten; es konnte nur scheitern. Und das hätte man wissen müssen.
Präsident Neuendorf will nun den Blick nach vorn richten, wie er sagt. Was er sieht am Horizont, ist die EM 2024 in Deutschland. Eine konkurrenzfähige Mannschaft fürs Turnier zu bauen, ist Aufgabe des Trainers – und der wird wohl Hansi Flick bleiben. Die ungleich größere Aufgabe besteht darin, das Land wieder hinter der Mannschaft zu sammeln. Die WM in Katar war eine verstörende, Menschenrechtsverletzungen, tote Bauarbeiter, die Verfolgung von Homosexuellen, all das hat viele Fans vom Fußball entfremdet. Hinzu kommen die enttäuschenden Spiele des Nationalteams, auch das hat den Graben noch vertieft.
Wie es nun weitergehen wird? Eine Prognose sei hier gewagt: Die sogenannte schonungslose Analyse wird auf sich warten lassen, es folgt eine Selbstanklage inklusive Demutsbekundungen ("wir haben verstanden, wir haben gelernt"), und dann geht es erstmal so weiter wie bisher. Beim DFB bekommt jeder eine zweite, dritte oder vierte Chance. Selbsterneuerung hat er nicht im Programm. Weder auf dem Rasen, noch in den Büros der Funktionäre.