Ukraine-Krieg "Wir erleben eine sporthistorische Zäsur": Was die Sportsanktionen gegen Russland bedeuten – und bringen

Olympische Spiele in Russland
Bei den Olympischen Spielen in Sotschi wehte die olympische Flagge neben der Russischen. Ob sie das jemals wieder tun wird?
© Hannibal Hanschke / Epa File / DPA
Forscherin Jutta Braun über die Wirkung der Sportsanktionen gegen Russland – und welche Lehren es aus dem Kalten Krieg gibt, als sich Westen und Osten gegenseitig mit Boykotts überzogen.

Frau Dr. Braun, Sie forschen zu Boykott- und Sanktionsmaßnahmen im Sport. Was können wir aus der Geschichte lernen? Wird der Ausschluss des russischen Sports einen befriedenden Einfluss auf den Russland-Ukraine-Konflikt haben?

Als Einzelmaßnahme sicherlich nicht. Aber im Verbund mit anderen Sanktionen wie dem Ausschluss aus dem Bankensystem SWIFT und dem weitgehenden Abbruch von Handelsbeziehungen kann ein Sport-Boykott schon Wirkung entfalten. Er trägt zur sichtbaren Isolation Putins bei.

Russland nahezu komplett aus der Sportwelt verstoßen worden: Weder dürfen russische Athletinnen und Athleten an Wettkämpfen teilnehmen, noch finden internationale Veranstaltungen auf russischem Boden statt. Hat es ein vergleichbares Sanktionspaket schon einmal gegeben?

Nein, die Wucht und das Tempo der Maßnahmen sind einzigartig. Doch erkenne ich eine Parallele in der Geschichte: Südafrika wurde seit den 1960-er Jahren sukzessive aus dem Sport verbannt, als Reaktion auf das menschenverachtende Apartheid-Regime. Es begann mit dem Ausschluss aus der olympischen Bewegung, später in den 70-er Jahren folgte die Isolation im Fußball, ebenso wie in der Leichtathletik. Erst nach der Haftentlassung von Nelson Mandela und dem Ende der Apartheid durfte Südafrika in den 1990ern zurückkehren auf die internationale Bühne.

Eine solche Ächtung ist zuletzt selten gewesen: 2014 fanden die Olympischen Winterspiele in Sotschi statt – obwohl Russland schon damals ein Land war, in dem Menschen- und Freiheitsrechte wenig galten. Ähnliches trifft auch auf China zu, im Februar dieses Jahres Gastgeber der Winterspiele.

Die ganze Welt wusste um die Situation in den jeweiligen Ländern – und trotzdem durften die Spiele dort stattfinden. Das galt übrigens auch für Olympia 1936, das Völkerfest unterm Hakenkreuz in Berlin. Der Schriftsteller Heinrich Mann hielt noch im Juni 1936 eine Rede, die bis heute aktuell ist. Er sagte: "Ein Regime, das den Krieg vorbereitet und nur durch verlogene Propaganda existiert, wie soll ein solches Regime den friedlichen Sport und freiheitliche Sportler respektieren?" Diese Mahnung ähnelt den politischen Bedenken, die gegen Sotschi 2014 vorgebracht wurden.

Nur drei Tage nach dem Ende der Spiele von Sotschi marschierte Putin auf der Krim ein. Und in diesem Jahr startete er vier Tage nach der Schlussfeier von Peking die Invasion in die Ukraine.

utta Braun, Historikerin
Dr. Jutta Braun ist Historikerin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam.
© Privat

Die Winterspiele von Peking 2022 wollte sich Putin anscheinend nicht nehmen lassen, um der Welt die vermeintliche Überlegenheit Russlands auf der Bühne des Sports vor Augen zu führen. Der Beginn der Aggression 2014 und 2022 jeweils wenige Tage nach Ende der Spiele ist ein anschaulicher Beleg dafür, dass der sogenannte Olympische Friede nur auf dem Papier existiert.

Putin terminiert seine Attacken offenbar nach dem Sportkalender.

Auffällig finde ich, welch überragende Rolle der Sport in Diktaturen und autoritären Regimen einnimmt. Solche Regime haben stets überproportional viele Ressourcen auf den Sport verwendet, weil sie diesen als Mittel zur Selbstdarstellung nutzten. Das war bei Hitler so, später bei den kommunistischen Staaten und ist heute auch in China und Russland der Fall.

1980 boykottierten westliche und islamische Staaten die Sommerspiele von Moskau, nachdem Russland 1979 in Afghanistan einmarschiert war. 1984 blieb dann der Ostblock den Spielen in Los Angeles fern. Heute stehen sich der Westen und Russland erneut gegenüber. Welche Lehren können wir aus diesen Boykotten während des Kalten Kriegs ziehen?

Der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt war damals zunächst gegen den Boykott. Er sagte, dass dadurch nicht ein einziger sowjetischer Soldat Afghanistan verlassen würde. Womit er Recht hatte. Deutschland schloss sich dennoch aus Bündnistreue zu den Vereinigten Staaten dem Boykott an. Die symbolische Bedeutung dieses Boykotts ist nicht zu unterschätzen. Die Sowjetunion veranstaltete Sommerspiele, die sportlich entwertet waren, weil viele der besten Athleten nicht an den Start gingen. Insgesamt boykottierten mehr als 40 Nationen. Das war schon ein schwerer Schlag für Moskau und ein Zeichen an die dortige Bevölkerung, dass sich das Land mit dem Afghanistan-Krieg selbst ins Abseits manövriert.

Thomas Bach, der heutige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), war damals bundesdeutscher Athletensprecher und hat den Boykott heftig kritisiert. Der Fechter Bach hatte in Moskau seine olympische Goldmedaille verteidigen wollen.

Bach hat mit dieser persönlichen Erfahrung stets gerechtfertigt, dass er als Sportfunktionär und IOC-Präsident darauf drängte, die olympische Show weiterlaufen zu lassen. Egal, was weltpolitisch auch passieren mochte.

Jetzt hat das IOC aber eingelenkt und empfiehlt, den russischen Sport auszuschließen.

Die Konsequenz, mit der der russische Sport in diesen Tagen sanktioniert wird, ist beispiellos. Zudem gibt es keine vernehmbare öffentliche Debatte über die Legitimität der Maßnahmen, es herrscht weitgehend Zustimmung. Wir erleben derzeit eine sporthistorische Zäsur, auch weil plötzlich niemand mehr behauptet, dass der Sport unpolitisch sei. Die Sportwelt positioniert sich zusehends geschlossen gegen die russische Invasion. Hoffen wir, dass dieses Signal bei Sportfreund Putin ankommt.

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