Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement dringt in der Reformdebatte auf Schnelligkeit. "Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren", sagte er der "Neuen Westfälischen Zeitung". "Durch die Herausforderungen, vor die uns die Einheit Deutschlands gestellt hat, haben wir gegenüber anderen europäischen Volkswirtschaften sicherlich ein Jahrzehnt verloren. Wir müssen also den Reformprozess zu raschen Ergebnissen führen, und das wird der Bundeskanzler jetzt tun." Gerhard Schröder will sich dazu am kommenden Freitag in einer Regierungserklärung äußern.
Tabus bei sozialen Einschnitten
SPD-Fraktionschef Franz Müntefering warnte jedoch erneut vor zu radikalen Reformen. "Die Qualität einer Reform erkennt man nicht an deren Rigorismus, sondern ob sie hilft, Wohlstand zu sichern und die Substanz des Sozialstaates zu erhalten", sagte er am Sonntagabend in der ZDF-Sendung "Berlin direkt". Es müsse bei sozialen Einschnitten Tabus geben. "Ich glaube, dass man nicht alles, was man sich vorstellen kann, machen darf."
Am Wochenende hatten Bundespräsident Johannes Rau, Parteien und Wirtschaft unverzügliche und energische Reformen gefordert. Rau sagte: "Auf die Frage, wann die richtige Zeit für Reformen ist, gibt es nur eine Antwort: jetzt." Mit 4,7 Millionen Arbeitslosen dürfe sich die Politik nicht abfinden - "das würde die Demokratie in Deutschland gefährden". Rau forderte Regierung und Opposition zur Zusammenarbeit auf.
Massive Eingriffe sind nötig
Die CDU stellte dies bei den Reformen der Sozialsysteme in Aussicht, nannte aber Bedingungen. Schröder müsse einen "Masterplan" auf den Tisch legen und durchsetzen, verlangte Fraktionsvize Friedrich Merz. Bei den Sozialversicherungen könne nur noch eine Basisabsicherung gewährleistet werden. Nach einem Bericht der "Leipziger Volkszeitung" will Schröder in der Regierungserklärung eine Senkung der Lohnnebenkosten von derzeit 42 auf unter 40 Prozent schon im kommenden Jahr ankündigen. Die Senkung solle einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes leisten und durch massive Eingriffe im Gesundheitsbereich und bei den Kosten der Arbeitslosenverwaltung erreicht werden.
Zur Bewältigung der Krise des Sozialstaats werden Abstriche beim Arbeitslosengeld und an der Rente immer wahrscheinlicher. Darin zeigten sich Politiker von Regierung und Opposition sowie führende Vertreter der Wirtschaft im Grundsatz einig. Allerdings blieb offen, in welchem Ausmaß Arbeitslosengeld und Alterseinkünfte beschnitten werden sollen.
Der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, griff in der "Berliner Zeitung" Überlegungen im Bundeswirtschaftsministerium auf, das derzeit maximal 32 Monate gewährte Arbeitslosengeld nur noch zwölf oder 18 Monate zu zahlen. Die Liberalen wollen dazu in der kommenden Woche einen konkreten Antrag im Bundestag einbringen, nicht zuletzt, um die Bereitschaft der rot-grünen Koalition zu wirklichen Reformen zu testen, wie der FDP-Abgeordnete Dirk Niebel erklärte.
SPD-Fraktionschef Franz Müntefering hatte bereits in der vergangenen Woche rot-grüne Regierungspläne gerechtfertigt, die eine Herabstufung von nicht mehr vermittelbaren Langzeitarbeitslosen auf Sozialhilfeniveau vorsehen. Bestandteile der Überlegungen ist ferner die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer noch nicht genauer festgelegten Grundsicherung.
In der ZDF-Sendung "Berlin direkt" sagte Müntefering am Sonntagabend zu Einwänden von Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, es sei das falsche Signal, wenn viele arbeitsfähige Sozialhilfeberechtigte durch die Zusammenlegung besser gestellt würden: "Der Arbeitgeberpräsident redet ein bisschen viel, auch über ungelegte Eier. Das ist ja noch gar nicht zu Ende diskutiert. Das Prinzip ist entschieden: Die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger kommen zur Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr - schrittweise oder auf einmal, und da werden sie Arbeitslosengeld 2 bekommen." Die genauen Regelungen würden noch entschieden, erklärte Müntefering.
Klares Nein der SPD zu Luxussteuer
Für eine Zusammenlegung sprach sich auch der baden-württembergische Sozialminister Friedhelm Repnik aus. Dem "Spiegel" sagte der CDU-Politiker, künftig sollte nur noch zwischen arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Beziehern von Sozialleistungen unterschieden werden. Die Pläne der Bundesregierung ebenso wie die Überlegungen der CDU/CSU sehen scharfe Sanktionen für Arbeitsunwillige vor.
Arbeitgeber und Wirtschaftsexperten verlangten darüber hinaus einen spürbaren Beitrag der Rentner zur Konsolidierung der Staats- und Sozialversicherungsfinanzen. Arbeitgeberpräsident Hundt sprach sich im Deutschlandfunk dafür aus, das Rentenniveau von derzeit rund 70 Prozent auf 62 oder 60 Prozent abzusenken. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus Zimmermann, sagte der "Berliner Zeitung", ein Beitrag der Rentner zu einem umfassenden Konsolidierungspaket "wäre angemessen". In der Bundesregierung werden mögliche Abstriche bei der Rente derzeit nicht öffentlich diskutiert.
Die Gewerkschaften beschränkten sich am Wochenende darauf, erneut mögliche Abstriche beim Kündigungsschutz zu kritisieren. Ver.di-Chef Frank Bsirske schlug alternativ ein 20-Milliarden-Euro-Konjunkturprogramm und bei gleichzeitiger Lockerung der EU-Defizit-Kriterien vor.
Hoher Lehrstellenmangel erwartet
Der Vorschlag Gersters, zur Verbesserung der Staatsfinanzen eine Luxussteuer einzuführen, wurde von prominenten Sozialdemokraten im Keim erstickt. Der nordrhein-westfälische SPD-Vorsitzende Harald Schartau und der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Joachim Poß, forderten den Präsidenten der Bundesanstalt auf, sich auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Schwarzarbeit zu konzentrieren, "anstatt Vorschläge zur Steuerpolitik zu machen".
Neben der hohen Arbeitslosigkeit droht in diesem Jahr auch ein erhebliches Ausbildungsplatzdefizit. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagte am Wochenende im Fernsehsender n-tv ein "dramatisches Lehrstellenproblem" für den Herbst voraus. Es gebe Anzeichen, dass es bis zu 15 Prozent weniger Ausbildungsplätze geben werde. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Jürgen Rüttgers warf der Bundesregierung Untätigkeit vor.
Nach Einschätzung des Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Arbeitgeberverbände werden in diesem Jahr zwischen 50.000 und 120.000 Jugendliche keine Lehrstellen bekommen. Hundt machte dafür in dem Fernsehinterview die schlechte wirtschaftliche Entwicklung verantwortlich. "Die Konsequenz ist, dass Unternehmen, die um ihre Existenz kämpfen, keine zusätzliche Lehrstellen anbieten", sagte der Arbeitgeberpräsident.
Der nordrhein-westfälische CDU-Vorsitzende Rüttgers forderte die Bundesregierung in einer in Düsseldorf veröffentlichten Erklärung auf, ein Aktionsprogramm für mehr Lehrstellen aufzulegen, "um jungen Menschen bessere Startchancen ins Berufsleben zu geben". Es reiche jedoch nicht nur aus, Jobs zu vermitteln. Nötig sei eine fundierte Ausbildung. Deshalb müsse das duale Ausbildungssystem mit dem Ziel reformiert werden, neue Angebote für praktisch Begabte zu schaffen. Darüber hinaus müssten größere Anstrengungen für eine bessere Integration ausländischer Kinder unternommen werden.