Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 27. Mai und wurde an die neuen Entwicklungen in Sri Lanka angepasst.
Sri Lanka ist bankrott. Der Inselstaat im Indischen Ozean erlebt die schwerste Wirtschaftskrise seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1948. Nach dem Sturz von Premierminister Mahinda Rajapaksa Anfang Mai, dem blutige Straßenkämpfe in der Hauptstadt Colombo vorausgingen, ist die Lage am Wochenende vollends außer Kontrolle gerate. Dem neu eingesetzten "Wirtschaftskriegskabinett" war es nicht gelungen, die existenziellen Probleme des Landes in den Griff zu bekommen: Die Regierung schafft es weiterhin nicht, lebensnotwendige Nahrungs-, Medikamenten- und Treibstoffimporte zu finanzieren und hat sich in ihrer Verzweiflung sogar an Russland gewandt.
Am Samstag dann die nächste Eskalationsstufe: Zehntausende Menschen gingen auf die Straßen, stürmten in ihrer Verzweiflung den Präsidentenpalast sowie das Präsidialamt und steckten die private Residenz des Premierministers in Brand. Mindestens 95 Menschen seien bei den Protesten verletzt worden, sagte eine Krankenhaussprecherin am Sonntag. Präsident Gotabaya Rajapaksa (ein Bruder des im Mai gestürzten Regierungschefs) und Nachfolge-Premier Ranil Wickremesinghe kündigten ihren Rücktritt an.
Infolge jahrelanger Vetternwirtschaft und staatlichen Missmanagements steht das Land vor dem ökonomischen Ruin. Massiv gestiegene Getreide- und Düngerpreise und eine durch die Corona-Pandemie beschleunigte Inflation befeuern die Krise in Sri Lanka zusätzlich (die Hintergründe lesen Sie hier).
Nicht nur dem südostasiatischen Inselstaat droht der Bankrott. Wegen der Pandemie, dem Klimawandel und einer durch den Ukraine-Krieg angeschlagenen Weltwirtschaft stehen zahlreiche einkommensschwache Nationen vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Doch: Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Staat bankrott ist?
Was ist ein Staatsbankrott?
Einfach gesagt: Ein Staatsbankrott, auch Staatsinsolvenz genannt, tritt dann ein, wenn ein Staat seine Schulden teilweise oder gar nicht mehr zurückzahlen kann. In diesem Fall spricht man auch von einem Zahlungsausfall. Wann genau dieser Punkt erreicht ist, hängt von der Schuldenquote ab. Die errechnet sich aus dem Verhältnis der Staatsverschuldung und dem Bruttoinlandsprodukt.
In der Regel müssen die Zahlungen für Staatsanleihen und Zinstilgungen an vorab festgelegten Terminen erfolgen, erklärt der Ökonom Sjacco Schouten in einem Beitrag für APG, dem größten niederländischen Pensionsfonds. Verpasst ein Staat diesen Zeitpunkt, folge eine Nachfrist – erst, wenn auch die verstrichen ist, gerate das Land offiziell in Verzug.
Auf den ersten Blick verhält es sich dabei mit einem Staat nicht anders als mit einem Unternehmen oder einer Privatperson. Kann ein Staat seine Schulden nicht mehr begleichen, ist er pleite – zumindest in der Theorie.
Das war es allerdings auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Denn wie es in einem "Wirtschaftsdienst"-Bericht des aus dem Jahr 2014 heißt, kann ein Staat – anders als ein Unternehmen – im Fall einer Überschuldung im Zuge eines Insolvenzverfahrens nicht einfach zerschlagen werden, um ausstehende Zahlungen zu decken. "Damit aber wäre die auf diese Weise festgestellte Überschuldung des Staates sozusagen ein Nicht-Ereignis", so die Fachzeitschrift.
Ohnehin, so berichtet das US-Finanzmagazin "Investopedia", haben souveräne Staaten oft die Möglichkeit, sich ihrer Zahlungsverantwortung zu entziehen. So drucken zum Beispiel Länder, die Schulden auf ihre eigene Währung angehäuft haben, in der Regel schlicht mehr Geld, um sich aus dem Bankrott "herauszupumpen" und so den Forderungen ihrer Gläubiger nachzukommen. Auf dem Papier mag das funktionieren. Die Folge ist jedoch eine massive Inflation, die eine in der Regel katastrophale ökonomische Kettenreaktion auslöst, an deren Ende die Bevölkerung leidet.
Mehr Eigenkapital, günstigere Kredite: So können Sie beim Immobilien-Kauf Tausende Euro sparen

Die Macht der Ratingagenturen
Steuert ein Staat auf die Zahlungsunfähigkeit hinzu, kann er entweder versuchen, seine Schulden durch höhere Steuern auszugleichen oder neue Auslandsschulden aufnehmen. Das gestaltet sich allerdings schwierig: Denn bereits eine sich anbahnende Staatsinsolvenz hat gravierende Auswirkungen auf die Kreditwürdigkeit. Entscheidend ist hierbei deren Einstufung durch Ratingagenturen. Die als "Big Three" bekannten Agenturen Moody’s, Fitch und S&P (alle in den USA ansässig) kontrollieren dabei 95 Prozent der Rating-Industrie, fasst die indische Finanzwebsite "Transfin" zusammen. Grundsätzlich sollen sie unabhängige Analysen zu Unternehmen und Staaten erstellen, die Investoren eine objektive Beurteilung deren Zahlungsfähigkeit ermöglicht.
Fällt die Bewertung schlecht aus, oder stufen die Agenturen die Kreditwürdigkeit eines Staates – wie im Fall von Russland und Sri Lanka – auf Ramschniveau ab, erschwert dies die Kreditaufnahme enorm und kann deutlich höhere Zinssätze zur Folge haben. Was bleibt, ist eine Schuldenspirale, die nicht nur den Staat selbst, sondern auch seine Gläubiger betrifft. Letztere sehen sich dem niederländischen Pensionsfonds APG zufolge im schlimmsten Fall gezwungen, ihre Anleihen vollständig abzuschreiben – sie bleiben auf den nicht gezahlten Rückzahlungen und Zinsen sitzen. In diesem Zusammenhang spricht man vom sogenannten Schuldenschnitt, dem "Haircut". Der Wert der Anleihen werde aber nie Null betragen – schließlich besteht auf lange Sicht immer die Chance, dass ein Staat seine Schulden begleichen wird.
An diesem Punkt setzen dem Nachrichtenportal Bloomberg zufolge normalerweise Hilfsprogramme ein, um die Grundversorgung maroder Staat aufrechtzuerhalten. Eines davon ist der "Pariser Club", dessen 22 Mitglieder (wohlhabende Gläubigerstaaten, darunter auch Deutschland) neue Bedingungen zur Schuldenbegleichung aushandeln. Der Pariser Club habe in den vergangenen Jahren allerdings zunehmend an Bedeutung verloren. Der Grund: China, selbst nicht Teil des Clubs, ist im Rahmen seiner Neuen Seidenstraße zu einem der größten Kreditgeber von Entwicklungsländern geworden.
Ein wirtschaftlicher Teufelskreis
Kann ein Staat seinen Zahlungsforderungen nicht mehr nachkommen, leidet am Ende immer die Bevölkerung. Nimmt eine Regierung Kredite in ausländischer Währung auf, kann er die Schulden nicht durch das Aufblähen der eigenen Währung ausgleichen und wird den drohenden Bankrott in der Regel unter anderem mithilfe von Steuererhöhungen zu kompensieren versuchen. Das schwächt allerdings die Kaufkraft der Bevölkerung und hat oft eine Rezession zur Folge – was wiederum die Steuereinnahmen beeinträchtigt. In einer solchen Situation verfällt die Bevölkerung oft in Panik: Aus Angst um ihr Erspartes versuchen sie, möglichst viel Geld von den Banken abzuheben und es im Ausland in Sicherheit zu bringen – das nennt man Kapitalflucht. Ein wirtschaftlicher Teufelskreis.
Da der Staat aus dem Ausland keine Kredite mehr erhält, kann er im Extremfall Angestellte im öffentlichen Dienst (Krankenhäuser, Polizei, etc.) nicht mehr bezahlen, was die oft gewaltsamen politischen Unruhen, die der Wirtschaftskrise vorausgehen, weiter anheizt.
Wie am Beispiel Sri Lanka zu sehen ist, kann der marode Staat, sollten Notkredite ausbleiben, nicht einmal mehr die Grundversorgung mit Nahrung, Medikamenten oder Treibstoff decken.
Mangelnde Transparenz
Um drohende Staatspleiten in Zukunft zu vermeiden, fordert Bill Dudley, Wirtschaftswissenschaftler an der Princeton-University, bereits Anfang des Jahres in einem Meinungsbeitrag für das Nachrichtenportal Bloomberg, dass das Schuldensystem an sich deutlich transparenter werden muss – in vielen Fällen sei es "unmöglich zu beurteilen, wie hoch die Verbindlichkeiten sind, wann sie fällig werden, wie hoch die Zinskosten sind und welche anderen Bedingungen gelten", so der Ökonom.
Weil viele Regierungen nicht einschätzen könnten, wie hoch die eigene Staatsverschuldung überhaupt ist, falle es besonders ärmeren Ländern schwer, Maßnahmen zu ergreifen, um einen drohenden Bankrott rechtzeitig abzuwenden. Auch für die Kreditgeber selbst sei diese Undurchsichtigkeit ein Problem. Weil sie oft nicht wissen, wie tief ein Staat bereits in der Kreide steht, würden Investitionen zum Risikospiel – das sie mit höheren Kreditkosten zu kompensieren versuchen.
Sri Lanka – nur der erste Dominostein?
2022 dürfte sich besonders für einkommensschwache und ohnehin hoch verschuldete Länder als Bewährungsprobe erweisen, schrieb auch Dudley. Zum einen würden die durch die US-Notenbanken und andere Zentralbanken angehobenen Zinssätze Anleger davon abhalten, in einkommensschwache Länder zu investieren. Hinzu käme, dass sich diese Staaten deutlich langsamer von den Folgen der Corona-Pandemie erholen als Industrienationen. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds erreichte die globale Verschuldung zum Ende des ersten Pandemiejahres 2020 umgerechnet mehr als 212 Billionen Euro – mit mehr als 26 Billionen Euro der höchste Anstieg innerhalb eines Jahres seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf die Weltwirtschaft stellt insbesondere für Entwicklungsländer, deren Wirtschaft bereits durch mehr als zwei Jahre Pandemie und massive Ernteausfälle infolge des Klimawandels geschwächt sind, vor eine Existenzprobe (Welche Folgen die explodierenden Getreidepreise haben, lesen Sie hier). Wie der "Economist" schreibt, droht die weltweite Inflation durch steigende Zinssätze vollends außer Kontrolle zu geraten. Staaten in Afrika, Südostasien und Südamerika sind enorm abhängig von Nahrungs- und Rohstoffimporten – deren Preise explosionsartig ansteigen. Nach Angaben der Weltbank sind fast 60 Prozent der ärmsten Volkswirtschaften akut von einer Schuldenkrise bedroht. Was in Sri Lanka passiert, könnte somit ein Vorbote für viele weitere ärmere Länder sein.
Quellen: APG; "Wirtschaftsdienst"; "Investopedia"; "Bloomberg"; "The Economist"; dpa