Das sri-lankische Verteidigungsministerium hat Schießbefehl gegeben. Jeder Demonstrant, der Eigentum beschädigt oder seine Mitbürger in Gefahr bringt, wird damit zur Zielscheibe der Sicherheitskräfte.
Bei den gewaltsamen Protesten sind seit Anfang der Woche bislang 250 Menschen verletzt und sieben getötet worden. Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgegnern und -befürwortern nehmen auch nach dem Rücktritt von Premierminister Mahinda Rajapaksa kein Ende. Die Unruhen sind das Ergebnis der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit des Inselstaats im Jahr 1948.
Ein Überblick.
Premierminister verschanzt sich nach Rücktritt in Marinebasis
Die Ausschreitungen sind das Resultat der seit mehr als einem Monat brodelnden Stimmung in dem 22-Millionen-Einwohner-Land im Indischen Ozean. Die Unruhen nahmen bereits im April massiv an Fahrt auf. Infolge eines landesweit ausgerufenen Notstandes sperrte die Regierung damals soziale Medien und ermächtigte die Behörden, Menschen ohne Haftbefehl festzunehmen. Die Abschreckung verfehlte ihre Wirkung.
Nachdem die Proteste über Wochen nicht abebbten, erreichten sie am Montag ihren gewaltsamen Höhepunkt. Wegen landesweit enorm gestiegener Preise, insbesondere auf Lebensmittel und Treibstoff, gingen die Menschen in der Hauptstadt Colombo auf die Straßen und forderten die Absetzung der Regierung, allen voran von Premierminister Mahinda Rajapaksa.
Blutig wurde es, als in Colombo offenbar eigens zu diesem Zweck angereiste Anhänger des Regierungschefs dessen Gegner auf offener Straße mit Stöcken und Knüppeln angriffen. Die Demonstranten wiederum steckten Dutzende Häuser von Politikern in Brand, die sri-lankische Polizei griff zu Wasserwerfern und Tränengas. Hunderte wurden bei den Zusammenstößen verletzt, mehrere Menschen starben.
Noch am Montag verkündete Premierminister Mahinda Rajapaksa seinen Rücktritt und floh am Folgetag in einen Marinestützpunkt. Mit ihm verloren auch alle Minister ihre Posten.
Sri Lanka: Kein Ende der Proteste in Sicht
Ein Ende der Ausschreitungen ist trotzdem nicht in Sicht. Demonstranten fordern nun Mahindas Verhaftung, werfen ihm vor, die Angriffe auf die Protestierenden orchestriert zu haben. Am Dienstag ordnete das Verteidigungsministerium die Sicherheitskräfte an, auf alle Vandalen und Plünderer zu schießen. Kurz zuvor hatte Sri Lankas Präsident Gotabaya Rajapaksa auf Twitter zum Ende der Gewalt und Racheakten gegen andere Bürger aufgerufen. Gotabaya ist der Bruder des beim Volk in Ungnade gefallenen einstiegen Regierungschefs.
Die Familie Rajapaksa dominiert seit Jahren die Landespolitik. Mahinda, der sich nun vor den wütenden Demonstranten verschanzt, bekleidete zum Ende des langjährigen Bürgerkriegs zwischen den Regierungstruppen und den sogenannten "Befreiungstigern" von Tamil Eelam das Amt des Präsidenten. Sein jüngerer Bruder Gotabaya, heute seinerseits Präsident, war zu dieser Zeit Verteidigungsminister.
Zwei weitere Brüder, die dem Finanz- und Landwirtschaftsministerium vorstanden, traten bereits im April zurück, als sich die Proteste im Land verschärften. Gleiches gilt für Namal, einen Sohn von Ex-Premier Mahinda, der seinen Posten als Sportminister aufgab.
Dahinschmelzende Landesreserven: Resultat von Vettern- und Misswirtschaft
Sri Lanka kämpft mit der schwersten Wirtschaftskrise seit seiner Unabhängigkeit 1948. Wie die britische BBC berichtet, steigen die Lebensmittelpreise seit Ende vergangenen Jahres. Weil Nahrung inzwischen bis zu 30 Prozent teurer ist, sähen sich viele Sri-Lanker inzwischen gezwungen, auf Mahlzeiten zu verzichten. Knapper Brennstoff, stundenlange Stromausfälle und ein gravierender Mangel an Medikamenten verschärfen die Lage im Inselstaat weiter. Benzin, Gas und Kühlmittel werde seit Wochen rationiert. Beim stundenlangen Warten vor von Soldaten bewachten Tankstellen sollen bereits Menschen in der Hitze gestorben sein, berichtete der US-Nachrichtensender CNN im vergangenen Monat.
Die Regierung wiederum macht vor allem die wegen der Corona-Pandemie ausbleibenden Tourismuseinnahmen für den drohenden Staatsbankrott verantwortlich. Experten und Demonstranten, so die BBC weiter, seien sich allerdings einig, dass jahrelange Vettern- und Misswirtschaft schuld an der prekären Lage sind. So habe die Regierung nach Bürgerkriegsende verstärkt auf Eigenproduktion gesetzt – für die Staatseinnahmen essentielle Exporteinnahmen blieben infolgedessen aus, der Staat wurde zunehmend abhängig von ausländischen Importen. Außerdem habe Sri Lanka riesige Schulden gegenüber China angehäuft, um im Rahmen der "Neuen Seidenstraße" oft unnötige Infrastrukturprojekte finanzieren zu können. Finanzminister Ali Sabry erklärte kürzlich, dass die Landesreserven auf rund 50 Millionen US-Dollar geschrumpft seien.
Gegenmaßnahmen, so berichtet der "Indian Express", scheiterten kläglich: Um den dahinschmelzenden Reserven entgegenzuwirken, verbot die Regierung zeitweise die Einfuhr von chemischen Düngemitteln – die Landwirte sollten auf organische, heimische Alternativen ausweichen. Die Folge: Ernteausfälle. Die nötigen Lebensmittelimporte kann sich Sri Lanka auch wegen der infolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine gestiegenen Marktpreise nicht leisten.
Außerdem hat die Regierung den Import vieler "nicht lebensnotwendiger" Güter, wie zum Beispiel Autos, ausgesetzt, wie die BBC weiter berichtet. Auch Präsident Gotayabas Versuch mittels Steuersenkungen das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, ging nach hinten los, schreibt CNN. Die ohnehin schwindenden Staatseinnahmen sanken weiter, was Rating-Agenturen dazu bewog, Sri Lankas Kreditwürdigkeit auf Ramschniveau abzustufen, was einen erschwerten Zugang zu ausländischen Märkten zur Folge hatte. Zu allem Überfluss, so CNN weiter, hatte die Regierung unter Premier Mahinda Rajapaksa im März die Landeswährung an die Börse gebracht, um sich über Umwege für ein Darlehen des Internationalen Währungsfonds zu bewerben. Stattdessen fiel der Wert der sri-lankischen Rupie ins Bodenlose – die Inflation belastet die Bevölkerung massiv.
Opposition will Übergangsregierung stellen
Am Mittwoch soll es vergleichsweise ruhig auf den Straßen geblieben sein. Die bis Donnerstag verlängerte Ausgangssperre, an die sich die Demonstranten zuvor nicht gehalten hatten, zeigt offenbar vorerst Wirkung.
Die größte Oppositionspartei hat inzwischen auch den Rücktritt von Präsident Gotabaya Rajapaksa verlangt. Oppositionsführer Sajith Premadasa von der United Peoples’ Party erklärte sich bereit, in einer Übergangsregierung das Amt des Premierministers zu übernehmen. Zur Bedingung machte seine Partei jedoch, dass nach dem Rücktritt des bisherigen Regierungschefs Mahinda Rajapaksa nun auch der Präsident, sein Bruder, auf sein Amt verzichtet.
Der wirtschaftlichen Lage – und damit den Menschen – hilft das kurzfristig nicht. Ohne Notkredite in Milliardenhöhe, die vor allem für den Import von Treibstoff dringend benötigt werden, droht die Situation weiter zu eskalieren.
Quellen: BBC; "The Indian Express"; CNN; "Guardian"; mit Material der Nachrichtenagenturen AFP und dpa