405 Punkte - so viele trennen den Russen Sergey Lazarev vom Sieg. Er steht aufgeregt vor dem Bildschirm im Greenroom der Globen Arena und starrt auf die Punktetabelle. Die Ukraine liegt mit 534 Punkten in Führung. Noch. Das Ergebnis der Zuschauer kann alles auf den Kopf stellen. Aufgeregt springt der 33-Jährige auf und ab. Würde es am Ende doch noch für ihn reichen?
"Und an Russland gehen …", setzt Moderator Mans Zelmerlöw an. Die russische Delegation hält sich an den Händen. Stille. Auch die 10.000 Zuschauer in der Halle schauen schweigend auf die Monitore. "361 Punkte." Jubel. Schreie. Nicht bei Lazarev, sondern wenige Meter weiter am Tisch von Jamala.
Die Ukraine hat mit insgesamt 534 Punkten den Eurovision Song Contest 2016 in Stockholm gewonnen. Die 32-jährige Krimtatarin Jamala belegte mit ihrer eindringlichen Ballade "1944" und insgesamt 534 Punkten den ersten Platz. Im Finale war es tatsächlich zum Showdown zwischen Russland und der Ukraine gekommen.
Russlands Superstar-Auftritt beim ESC
Dami Im aus Australien, die ihn mit ihrem Song "Sound of Silence" hätte verhindern können, war zwar der Liebling der Jurys, landete am Ende mit 511 Punkten auf Platz zwei. Russland erreichte mit Lazarev und "You are the only one" überraschend nur den dritten Platz. Dabei galt der Moskauer wochenlang als Favorit.Warum Lazarev kurz vorm Ziel gescheitert ist? An seinem Auftritt lag es nicht. "Ich werde nervös sein", hatte der Russe zuvor dem stern gesagt. Doch davon ist ihm am Samstagabend nichts anzumerken. Entspannt sieht er aus, als er die Bühne betritt. So als würde er in einem Club und nicht vor über 100 Millionen Fernsehzuschauern auftreten. Es ist die Coolness eines Superstars. In Perfektion absolviert er die Tücken seiner High-Tech-Bühnenschau, bei der er eine scheinbar stufenlose Wand erklimmt. Jeder Schritt muss sitzen, das weiß er, sonst würde er stürzen.
Die Fans in der Halle, die in den vergangenen Jahren russische Interpreten mit Buhrufen empfangen hatten, begrüßen ihn mit großem Applaus. Lazarev hat sich in seiner Zeit in Stockholm viele Freunde gemacht. Das lag nicht nur daran, dass er stets gut gelaunt für Fotos posierte, sondern weil er stets betonte, nichts gegen Homosexuelle zu haben. Ein Sympath und Homo-Freund. Clever.
Am Ende stolperte er über das Abstimmungsverhalten der Jurys. Bei den Wertungsrichtern belegte er nur Rang fünf. Die Zuschauer hingegen bedachten den Russen mit der höchsten Punktzahl. Ein schwacher Trost.
Standing Ovations für ESC-Gewinnerin Jamala
Die gläserne Eurovisions-Trophäe hält am Ende Jamala in den Händen. Dabei reiste sie mit schwerer Kost nach Stockholm. In ihrem Song "1944" geht es um die Vertreibung ihrer Großmutter von der Krim durch Josef Stalin. Es ist eine persönliche Familiengeschichte. "Humanity cries, everyone dies", singt Jamala. Schwere Kost für eine Unterhaltungsshow. Vor allem wenn man bedenkt, dass die Ukraine 2004 mit der Peitschen schwingenden Ruslana zum ersten Mal gewann. Krasser könnte der Unterschied nicht sein.Jamalas Auftritt war das perfekte Gegenstück zur Millionen-Show des Russen. Nur in ein blaues, tuchartiges Kleid gehüllt, sang die ausgebildete Opernsängerin ihr Klagelied. Keine Tänzer, keine Tricks, keine Ablenkung vom Wesentlichen. Das war so eindringlich, dass es in der Arena Standing Ovations für sie gab. Ja, Jamalas Auftritt war gut. Mit ihrer starken Stimme berührte sie die Zuschauer. Der Schmerz ihrer Familie - sie sang ihn sich von der Seele. Das war bewegend und authentisch. Und zeigte Haltung.
"Dieser Song handelt von Frieden und Liebe. Und ich möchte Frieden und Liebe für jeden", hatte sie nach ihrem Sieg gesagt. Jamala ist eine Siegerin der Herzen. Es bleibt die Frage, ob ihr erster Platz auch politisch motiviert ist. Ob einzelne Jurys und Länder Russland bewusst abstraften - oder die Ukraine bevorteilten. Das muss die Analyse der Einzelwertungen zeigen. Aber die Botschaft in ihrem Song war klar: Dort das böse Russland, hier die geschundene Ukraine. Insofern ist Jamalas Triumph auch ein politischer Sieg.
Auch Schweden darf sich als ESC-Sieger fühlen
Doch nicht nur Jamala, sondern auch die Schweden dürfen sich als Sieger fühlen. Erstens, weil sie mit ihrem Teilnehmer Frans und seinem Gute-Laune-Song "If I were sorry" erneut den Sprung unter die Top Ten (Platz 5) schafften und damit ihren Ruf als Hit-Garanten beim ESC zementierten. Zweitens wegen der perfekten Show.Mans Zelmerlöw und Petra Mede führten mit viel Witz und Selbstironie durch den Abend. Ihre Musicalparodie auf die vielen Absurditäten des ESC - wie oberkörperfreie Trommler, Trickkleider und Hamsterräder - dürfte in die Geschichte des Wettbewerbs eingehen. Auch die Änderungen bei der Punktevergabe gingen voll auf. Dieses Finale war dank der Trennung zwischen Jury- und Zuschauerpunkten spannend wie seit Jahren nicht mehr. Bravo Schweden.
Deutschland belegt beim ESC wieder letzten Platz
Nur einen Punkt von der Jury (aus Georgien), nur zehn Punkte von den Zuschauern: Deutschland landete nach dem Null-Punkte-Debakel von Ann-Sophie in Wien erneut auf dem letzten Platz. Woran lag es? Sängerin Jamie-Lee Kriewitz ist kein Vorwurf zu machen. Die 18-Jährige war in Form, legte stimmlich einen guten Auftritt hin. Doch Europa hat das Lied einfach nicht verstanden.
Das Gesamtpaket stimmte nicht: Eine Schülerin im Pippi-Langstrumpf-Look, die Manga und K-Pop liebt und in ihrer Freizeit gerne schläft, singt eine langwierige Ballade in einem Zauberwald voller Geister. Damit wussten offenbar viele nichts anzufangen. Und auch wenn die Diskussion sofort neu in Gang kommt: Mit Merkel oder ihrer Politik, die abgestraft wird, hat das alles nur wenig zu tun.
Justin Timberlake beim ESC
Die Überraschung des Abends gelang der Bulgarin Poli Genova, die auf dem vierten Platz landete. Europa hat eben doch ein Herz für blinkende LED-Kleider und absonderliche Knietänze. Auch der Pole Michael Szpak landete mit seiner Ballade "Colur of Life" erstaunlich weit vorne. Und das, obwohl er in seinem roten Zirkusmantel wahlweise als Dürer-Gemälde, Roncalli-Sohn, Wolle-Petry-Zwei oder Jesus-Verschnitt geschmäht wurde. Nach der Jury-Wertung lag er noch abgeschlagen auf dem vorletzten Platz (vor Deutschland), doch dann gelang ihm die Auferstehung durch die Zuschauer. Am Ende wurde es Rang acht. Selten lagen Jury- und Zuschauermeinung so weit auseinander.
War sonst noch was? Klar, Justin Timberlake. Der US-amerikanische Superstar trat als Pausenact auf und präsentierte seine neue Nummer "Can't Stop The Feeling". Die Halle tobte, Timberlake schwitzte. Dufte. Da wünscht man sich doch glatt, dass so einer auch Mal als Teilnehmer ins Rennen geht. Mit einer Direktnominierung aus Deutschland vielleicht?