Als Apple das erste iPad vorstellte, war es wenig mehr als ein aufgeblasenes iPhone. Doch in den letzten Jahren ist es immer weiter in Richtung der Mac-Rechner des Konzerns gerutscht. Mit dem nun auf der Entwicklermesse Worldwide Developers Conference (WWDC) vorgestellten iPadOS 16 wird das iPad nun langsam aber sich zum (fast) vollwertigen Computer. Und das, ohne die Vorteile des Tablets zu verlieren. Der Weg dorthin war für den Konzern lang. Doch er dürfte sich lohnen.
Die große Frage, die es zu beantworten galt, ist folgende: Wie schöpft man das volle Potenzial eines Tablets aus, ohne einerseits den Nutzer zu überfordern und es andererseits unnötig einzuschränken? Damit haderten nicht nur die iPads. Auch Microsofts Surface-Tablets und Geräte mit Googles Android-System können die Frage bislang nicht befriedigend beantworten. Einige Entscheidungen Apples in den letzten Jahren könnten nun aber dazu führen, dass der Konzern kurz vor einer Lösung steht.
Was soll ein Tablet eigentlich sein?
Zu Anfang standen sich zwei Ansätze der Tablet-Nutzung scheinbar unvereinbar gegenüber: Apple und Google dachten das Tablet als großes Smartphone. Die Bedienung war die gleiche, das große Display bot nur mehr Platz für die Inhalte. Bei Microsoft war es anders herum: Das Windows auf den eigenen Surface-Tablets ist ein weitgehend vollwertiges Desktop-System, das mit Touch-Elementen vereinfacht wurde. Voll überzeugen konnte lange keiner der Ansätze.
Apples erster Schritt zur Lösung war es, einen Kompromiss zwischen den beiden Ideen zu schaffen – und das Tablet als eigenes System zu denken. Die wichtigste Entscheidung dafür war es, iPadOS aus dem iPhone-System iOS herauszutrennen und es unabhängiger weiterzuentwickeln. So konnte sich das System langsam immer weiter dem Mac annähern, ohne beim iPhone zu große Kompromisse machen zu müssen. Gleichzeitig finden aber auch sinnvolle Neuerungen aus iOS weiter ihren Platz im iPad-System.
Auch die am Montag eingeführten Neuerungen für iPadOS basieren auf dieser Philosophie. Betrachtet man sich die Neuerungen, fällt schnell auf, das sich iPadOS 16 fröhlich bei den Schwestersystemen bedient. Die überarbeitete Wetter-App landet ebenso auf dem Tablet wie die komplett neue Mac-Multitasking-Ansicht Stage Manager. Und beide gemeinsam machen das System besser.
Das Tablet als große Bühne
Gerade der Stage Manager hat das Potenzial, das iPad endlich zu einem vollwertigen Arbeitsgerät zu machen. Die neue Multitasking-Ansicht erlaubt es erstmals, auf dem iPad mehrere Programm-Fenster überlappend zu platzieren. Gleichzeitig wird der Wechsel zwischen den Fenstern so einfach wie nie. Und: Die Fenster lassen sich in Gruppen definieren, zwischen denen und innerhalb derer man enorm flüssig hin- und herwechseln kann. Gemeinsam mit kommenden Apps "auf Desktop-Niveau", einer weitreichenden Öffnung des Dateisystems, besser anpassbaren Toolbars und einer noch weiterreichenden Unterstützung externer Monitore wird sich das iPad ab Herbst plötzlich beinahe vollwertig als Computer nutzen lassen.
Die wichtigste Erkenntnis dürfte dabei für Apple gewesen sein, dass man die Haupt-Charakteristik des Tablets nicht verändert. Obwohl sich das Tablet schon jetzt nahezu vollständig mit Maus und Tastatur bedienen lässt, ist der Touchscreen auch bei den zahlreichen Desktop-Annäherungen weiter die primäre Eingabequelle. Anders als bei den manchmal fummeligen Einstellungen in der Surface-Version von Windows ist iPadOS ganz klar ein Tablet-System – das eben auf Wunsch auch wie ein Desktop-Rechner benutzt werden kann. Wer das nicht möchte, hat keinen Nachteil davon.
Gewagter Schritt aus einer unerwarteten Richtung
Apples wohl wichtigster Schritt kam aber aus Richtung der Computer: Mit dem Umstieg auf seine eigenen M-Chips hat Apple die Kluft zwischen Mac und iPad geschlossen. Statt das Tablet auf PC-Prozessoren zu zwingen, stellte der Konzern in den letzten 18 Monaten nahezu alle seine Rechner auf die auf Mobilchips basierenden, selbst entwickelten Prozessoren um. Das machte aber nicht die Rechner schwächer, sondern mit Einführung der M1-Chips in iPad Pro und iPad Air die Tablets in puncto Prozessorleistung zu vollwertigen Rechnern. Wie gut das funktioniert, erfahren Sie hier im Test des neuen iPad Air. Auch Stage Manager und die Desktop-Apps kommen nur für die iPads mit M-Prozessoren.
Die gewagte Strategie zahlt sich nun aus. Nimmt man eines der M1-iPads und schließt es an einen Monitor an, wechselt es mit iPadOS 16 automatisch in einen Modus, der von einem Desktop-System kaum noch zu unterscheiden ist. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, dass auch die Dritt-Entwickler ihre Programme so umstellen, dass sie einfach zwischen den beiden Varianten hin- und herwechseln können.
Für Apple-Kunden könnte dann in Zukunft die Frage beim Kauf einfach lauten: Brauche ich das Gerät vor allem als Tablet oder als Computer? Wer nur gelegentlich mal einen Desktop-Programm braucht, könnte sich dann eventuell das Notebook sparen und stattdessen das Tablet mit Maus, Tastatur und gegebenenfalls sogar einem Bildschirm nutzen. Und sonst einfach beim Touchen bleiben.