Teenager chatten bei Instagram, Eltern fürchten die Gefahren von Egoshootern und alle hängen viel zu lange am Smartphone: Was in der westlichen Welt längst Alltag ist, lässt sich nun auch bei den Ureinwohnern des brasilianischen Regenwalds beobachten. Durch Satelliten-Verbindungen ist auch in den isoliertesten Regionen der Welt das Internet angekommen. Und lässt den Stamm der Marubo in wenigen Monaten die komplette Wandlung des mobilen Zeitalters durchmachen – mit all seinen Folgen.
"Als das Internet ankam, waren alle sehr glücklich", berichtet Tsainama Marubo der "New York Times". "Dann wurde es schlimmer." Es kam per Fußmarsch: In einem tagelangen Trek in Flipflops hatten Träger im letzten September 20 Satelliten-Empfänger von Elon Musks Dienst Starlink in die abgelegene Heimat des Stammes getragen. Das Javari-Tal liegt an der brasilianischen Grenze zu Peru, auf einer größeren Fläche als Österreich leben hier einige der abgelegensten Stämme der Welt. Ohne Straßen, ohne Infrastruktur, in einigen Fällen sogar ohne Kontakt zur Außenwelt. Aber nun mit Internet.
Starlink: Das Internet kommt mit Wucht
Die plötzliche Ankunft der modernen Welt erschüttert die urtümlich lebende Gesellschaft aus 2000 Marubo in ihren Grundfesten. "Die jungen Leute sind durch das Internet faul geworden", klagt die 73-jährige Tsainama, die wie alle Marubo ihren Stammesnamen als Nachnamen trägt. "Sie benehmen sich wie Weiße." In der kurzen Zeit hätten viele das Interesse am traditionellen Leben verloren. Trotzdem kann auch sie die Vorteile nicht absprechen. "Bitte nehmt uns das Internet nicht weg."
Der Mann, der das Internet in den Urwald brachte, setzt eine Tradition fort. Enoque Marubos Vater brachte in den Sechziger Jahren den ersten Bootsmotor zu seinem Volk, sein Sohn folgt nun seinem Beispiel. Der 40-jährige Stammesführer lebte eine Weile in der Stadt, arbeitete als Grafiker für Coca-Cola. Als er von Starlink hörte, erkannte er nach eigenen Angaben sofort das Potenzial für sein Volk. In einem Video richtete er sich an Elon Musk, fragte dutzende US-Kongressabgeordnete an. In der Motivations-Rednerin und Technik-Beraterin Allyson Reneau fand er schließlich eine Verbündete: Aus eigener Tasche bezahlte sie dem Stamm 20 Starlink-Systeme.
Porno statt jagen
Deren Ankunft veränderte sofort die Dynamik des Stammes. Aus einem Leben in Abgeschiedenheit wurde plötzlich eines mit Dauerverbindung. Schon am ersten Tag hingen alle, die bereits für Besuche in der Stadt ein Smartphone besaßen, plötzlich den ganzen Tag am Bildschirm. Dann besorgten sich auch die anderen eins, oft gekauft von staatlichen Geldern.
"Jeder ist so sehr connectet, dass viele kaum mit der eigenen Familie sprechen", klagt Alfredo Marubo, der als Stammesführer eine Gruppe von Marubo-Dörfern leitet, bei einer Debatte zu der Veränderung. Auch andere sehen die Nachteile: Alle hängen ständig an den Geräten, in Whatsapp-Chats wird gelästert, Jugendliche spielen Gewaltspiele und schauen Pornos.
Gerade letzteres wird als Problem gesehen. In der Gesellschaft der Marubo gilt eigentlich schon ein öffentlicher Kuss als unangemessen, viele fürchten die drastische Darstellung der Pornobranche. Es gebe Berichte, dass junge Männer sich beim Sex aggressiver gebären würden, erzählt Alfredo Marubo.

Fluch und Segen
Auch Enoque Marubo muss die negativen Folgen zugeben. "Es hat unsere Routinen so sehr verändert, dass es schädlich wurde", gesteht er. "Wenn man im Dorf nicht jagt, fischt oder anbaut, gibt es nichts zu essen." Um sein Volk zu schützen, schob er deshalb sicherheitshalber der Dauerverbindung einen Riegel vor. Die Satellitenanlagen haben nun feste Nutzungszeiten: Zwei Stunden morgens, fünf Abends und am Sonntag ist das Internet eingeschaltet.
Trotzdem ist der Internet-Botschafter überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Sein Volk hat nun mehr Zugang zu Bildung, die Kommunikation nach außen ist einfacher. Gerade in Notfällen ist das ein Segen. Bei einem Schlangenbiss musste man früher etwa per Funk von einem Ort zum nächsten den Notruf abgeben, bis endlich ein Hubschrauber kommen konnte. Nun ist die Verbindung in kürzester Zeit aufgebaut. "Das hat schon Leben gerettet", erklärt Enoque Marubo.
Streit um die Folgen
Beim Stammestreffen über die Folgen ist die Haltung zwiegespalten. Die Jugend hänge zu viel an den Smartphones beklagen einige, die Traditionen litten darunter. Durch die Chats käme es oft zu Missverständnissen und Streit. "Ich will nicht, dass meine Worte aus dem Kontext gerissen werden", klagt eine Stammesführerin bei der Bitte, wenigstens während des Treffens die Verbindung abzuschalten. Neben ihr chatten einige, andere schauen ein Fußball-Spiel.
Die Ankunft des Internets sei prophezeit worden, berichtet Enoques Vater Sebastião Marubo, der einst den Bootsmotor mitbrachte, gegenüber dem Reporter. Ein Schamane habe schon vor Jahrzehnten vorhergesagt, das irgendwann ein kleines Gerät den Stamm mit der ganzen Welt verbinden würde. "Am Anfang würde es gut sein", habe er prophezeit. "Aber am Ende nicht mehr. Dann käme der Krieg."
Quelle: New York Times