Seit dem Morgen demonstrieren IBM-Mitarbeiter in der virtuellen Welt "Second Life". Sie stehen in Gruppen beieinander und recken übergroße Schilder in den Himmel: "Wir gehen hier nicht weg, bis der Vertrag unterzeichnet ist", steht drauf, oder: "Unsere Forderung waren 40 Euro mehr - dafür kürzt IBM unser Einkommen um 1000 Euro!" Keine Polizei ist in der Nähe, niemand schützt die Zentrale von IBM, vor der die Demonstranten stehen. Das aber ist auch nicht nötig: Die Menschen mit den Schildern sind Avatare in der Online-Welt "Second Life", hier kann keiner virtuelle Scheiben einschlagen. Dabei jedoch ist nur die Umgebung virtuell, die 1000 Euro Einkommensverlust sind laut Aussage der Demonstranten real, und viele Avatare sind hier echte Mitarbeiter von IBM - einige, um deren Geld es geht, andere, die sich solidarisch erklärt haben. Die Sprache der Schilder ist Englisch, Italienisch, Spanisch. "Ich lebe in Venezuela", sagt eine Avatarin im roten Polit-T-Shirt, das gratis verteilt wurde.
Sven Stillich...
... ist stern-Redakteur und Autor des Buches: "Second Life: Wie virtuelle Welten unser Leben verändern." (Ullstein, 224 Seiten, € 7,95)
Aufgerufen zu der 12-stündigen Massenkundgebung hat die weltweite Gewerkschaft "Uni Global Union" (UNI), unterstützt vom "Internationalen Metallgewerkschaftsbund" IMF. Die Mobilisierung lief seit Wochen über E-Mails und Webseiten. Es geht um IBM-Mitarbeiter in Italien, denen die Firma die Gewinnbeteilung gestrichen haben soll. Mehr als 900 Avatare sollen sich nach Angaben der Veranstalter angemeldet haben. Wie viele heute vor IBM-Gebäuden in "Second Life" aus welchen Gründen demonstrierten, ist schwer zu schätzen.
Reale Konflikte gelangen in den virtuellen Raum
"Das ist die erste Gewerkschaftsaktion in der virtuellen Welt", sagt der Generalsekretär der UNI, Philip Jennings. Und damit wird er Recht haben. Es wurden in der Vergangenheit zwar bereits Websites bestreikt und es gab Demonstrationen in Onlinespielen wie "Ultima Online" und "Sims Online", diese richteten sich jedoch entweder gegen den Betreiber des Spiels oder gegen unerwünschte Entwicklungen in der Welt. Auch in "Second Life" gab es bereits im Frühjahr eine große Demonstration, als die französische Rechtspartei "Front National" eine Dependance eröffnete - doch IBM kann sich wohl wirklich damit schmücken, der erste Konzern zu sein, der wegen realer Konflikte im virtuellen Raum angegriffen wird.
Dass es gerade IBM trifft, ist kein Zufall: Wie kein anderes Großunternehmen engagiert sich IBM in "Second Life". 10 Millionen Dollar will die Firma ausgeben, unter anderem um eine 3D-Welt zu entwickeln, in der IBM-Mitarbeiter sich treffen und miteinander arbeiten können. Es gibt sogar eine interne Liste von Verhaltensregeln für IBM-Mitarbeiter in "Second Life". IBM nimmt diese Welt ernst - deswegen ist eine Demonstration gegen den Konzern in "Second Life" für die Gewerkschaft nur konsequent: "Geschäfte wie IBM nutzen die Möglichkeiten des virtuellen Raums, um neue Kunden zu erreichen - aber ihnen gehört dieser Raum nicht alleine", sagt Philip Jennings. "Uns geht es darum, IBM dazu zu bringen, in Italien an den Verhandlungstisch zurückzukehren", fügt der Avatar "Union Mighty" hinzu, der früher in den USA für IBM gearbeitet hat und nun als amerikanischer Gewerkschaftler seine Ex-Kollegen beim Arbeitskampf unterstützt. "Wir können auch hier Druck auf IBM ausüben", sagt er weiter, "denn das hier hat Auswirkungen auf die reale Welt".
Eine stille Demonstration
Es ist eine stille Demonstration, langsam tickern Chattexte über den Bildschirm. Plötzlich schreckt ein schriller Warnton die Avatare auf. "DIE UMSÄTZE STEIGEN, UNSERE GEWINNBETEILIGUNG WIRD GEOPFERT!", skandiert ein Avatar. Andere rufen mit, doch schnell verstummt der Protest. Nach ein paar Minuten ist klar: Diese Form des Protests ist programmiert - der Warnton erklingt erneut, der Avatar schreit wieder los. Nun erschrickt niemand mehr. Auch IBM selbst klingt nicht eingeschüchtert. "IBM setzt auf markgerechte Bezahlung, die die Geschäftsergebnisse sowie die individuelle Leistung berücksichtigt", lautet auf stern.de-Anfrage die offizielle Stellungnahme des Konzerns zur Demonstration. Bleibt abzuwarten, wie solche Kundgebungen in einigen Jahren aussehen werden, wenn große Konzerne maßgebliche Teile ihrer Umsätze in virtuellen Welten machen könnten.