Die Welt hat einen seltsamen Geschmack. Vorige Woche starrte sie gebannt auf vier Amerikaner, die in einem Fitnesszent-rum herumhampeln, bis einer auf die Nase fällt; eine junge Engländerin namens Kate, die Orangensaft trinkt, Müsli in sich hineinschaufelt und über das graue Wetter klagt; eine Marktfrau, die auf Russisch mit einer Passantin streitet; und einen asiatischen Computerfan, der über die Vorzüge verschiedener Internet-Browser referiert - zehn Minuten lang.
Willkommen im Wunderland von "Youtube", dem ersten globalen Fernsehsender aus der Masse für die Masse. "Broadcast yourself", senden Sie (sich) selbst, lautet das doppeldeutige Motto dieser neuartigen TV-Station, die - wo sonst? - im Internet ihr Publikum findet. Hier entscheidet kein Programmdirektor mit Soziologiediplom, was die Zuschauer zu sehen bekommen: Gezeigt wird prinzipiell alles, was irgendwo in Berlin, Bangkok oder Boston jemand spannend, witzig oder sonst wie bemerkenswert genug findet, um es bei Youtube ins Netz zu stellen. Und dann stimmen die Millionen, die rund um den Erdball vor ihren Computermonitoren hocken, per Mausklick darüber ab, was sie anschauen wollen.
Die populärsten Videos finden ein Millionenpublikum, denn über den Youtube-Service selbst hat die Welt längst abgestimmt: Er ist ein Hit. Der größte, den das Internet seit Jahren gesehen hat. Die Geschichte der Firma ist filmreif - ein typisches Märchen aus dem Silicon Valley. Es beginnt vor nicht mal zwei Jahren mit einer Party in San Francisco, nach der die beiden Freunde Chad Hurley und Steve Chen feststellen, dass es verflixt schwer ist, die Videos, die sie bei der Fete aufgenommen haben, andere per Internet ansehen zu lassen. Also basteln sie eine Website, mit der das geht.
Hurley, ein schlaksiger Grafikdesigner aus Pennsylvania, und Chen, ein stoppelhaariger Software-Entwickler aus Taiwan, kennen sich aus gemeinsamen Tagen beim Bezahlservice Pay Pal, der 2002 vom Auktionshaus Ebay geschluckt wurde. Sie holen noch ihren Pay-Pal-Kumpel Jawed Karim dazu, der in Deutschland aufwuchs, ehe er 1992 mit seinen Eltern nach Minnesota zog. Karim, heute 27, hilft anfangs ein bisschen aus, beschließt dann aber, lieber wieder zu studieren. Was er verpasst, ist ein Quotenrenner, von dem jeder Fernsehdirektor träumt: Als You-tube im Mai 2005 probehalber auf Sendung geht, kümmert das noch keine Seele. Doch schon drei Monate später hat die Seite fast drei Millionen Besucher. Beim offiziellen Start im Dezember sind es doppelt so viele, im Mai dieses Jahres gut 42 Millionen - und derzeit surfen weit über 70 Millionen Zuschauer im Monat vorbei. "Menschen interessieren sich für andere Menschen", erklärt Josh Bernoff, Internetexperte bei Forrester Research, den Erfolg des Bürgerfernsehens. "You-tube ist die Fortsetzung des Reality-TV mit anderen Mitteln."
Das Silicon Valley suchte Superstars und fand sie vorige Woche in Hurley, 29, Vater von zwei Kindern, und Chen, 28, Single. Mit einem Schlag wurden die beiden zu den neuesten Multimillionären im Technik-Tal: Google blätterte Aktien im erstaunlichen Wert von 1,65 Milliarden Dollar hin, um Youtube zu kaufen. "Ich könnte mir keine Firma vorstellen, die besser zu uns passt", schwärmt Sergey Brin, einer der Google-Gründer. Während Wall-Street-Analysten Beifall klatschten und die Aktie des Internetmarktführers auf fast 430 Dollar kletterte, meldeten andere Zweifel an. "Im Augenblick hat Youtube keinerlei Geschäftsmodell, das 1,6 Milliarden Dollar rechtfertigen würde", grummelte Microsoft-Boss Steve Ballmer, stellvertretend für viele Kritiker, gegenüber dem Wirtschaftsmagazin "Business Week". "Obendrein gehören die Rechte an den meisten Inhalten auf der Seite anderen Leuten."
Das sind die beiden Kernfragen, mit denen Google sich nun herumschlagen muss: Wie verdienen wir Geld mit unserer ziemlich teuren digitalen Glotze, und wie vermeiden wir Copyright-Klagen?
Beides wird knifflig. Die Kehrseite des Youtube-Erfolgs sind dramatisch steigende Kosten: Je populärer die Seite wird, umso teurer ist es, auf Sendung zu bleiben. Jeden Tag kommen 65 000 neue Videos hinzu, die auf den Youtube-Rechnern Speicherplatz fressen, und jeden Tag werden über einhundert Millionen Filme angeschaut - die Kosten, die durch diesen Datenverkehr entstehen, schätzen Experten auf zwei Millionen Dollar im Monat.
Werbung ist die einfache Antwort auf das Geldproblem - aber welche Art von Werbung? Viele Websites versuchen ihr Glück mit Spots, die vor dem Video laufen oder mittendrin. Dieses traditionelle TV-Modell der "Unterbrecher-Werbung" hat Youtube bisher bewusst vermieden, um seine Nutzer nicht zu verschrecken. Gut möglich, dass künftig die bei Google so erfolgreichen Textanzeigen mit You-tube-Videos kombiniert werden.
Das Problem mit dem Urheberrecht dürfte schwieriger zu lösen sein: Wer bei Youtube herumstöbert, findet mühelos Neil Armstrongs erste Schritte auf dem Mond, Loriots Nudel-Sketch und Michael Jacksons "Thriller", ebenso wie Günther Jauchs frühe Versuche als Nachrichtensprecher und mehr als 300 Versionen des Zidane-Kopframmers im WM-Finale. Oft sind das aber Mitschnitte aus dem Fern-sehen, an denen nicht die das Copyright haben, die das Video online stellen.
Die Firma versucht, sich vor Klagen zu schützen, indem sie strittige Filmchen löscht, sobald Urheber sich beschweren. Zusätzlich hat Youtube mit einigen Medienkonzernen, darunter der TV-Sender CBS, Partnerverträge abgeschlossen. Die Firmen hätten erkannt, "dass vor Gericht zu ziehen nicht unbedingt die beste Taktik ist", sagt die Copyright-Anwältin Colette Vogele. Aber das heißt nicht, dass damit Prozesse vom Tisch sind, wie sie von Musiktauschbörsen bekannt sind. Gerade Googles praller Geldbeutel könnte Kläger locken: "Youtube ist jetzt ein lukrativeres Ziel", sagt Vogele. Der Time-Warner-Konzern soll bereits mit Google statt mit Youtube verhandeln.
Dass Google solche Aussichten nicht davon abhalten konnten, ein Vermögen für ein geldfressendes Start-up mit 67 Mitarbeitern auszugeben, zeigt, wie gut sich die Onlinewelt vom Platzen der Internetblase erholt hat. Es herrscht wieder Partystimmung im Silicon Valley, dank der Wiedergeburt des Internets als "Web 2.0". Ging es bei der ersten Version noch darum, Menschen mit Informationen zu versorgen, dreht sich diesmal alles darum, "Menschen mit anderen Menschen in Kontakt zu bringen", sagt Forrester-Analyst Bernoff. Mitmachen, sich online zur Schau stellen, Freunde finden - das sind die Trends, die erfolgreiche Dienste bedienen.
Manchen Nutzern geht es nur um das soziale Netzwerk, das virtuelle WirGefühl. Viele aber träumen davon, über Nacht berühmt zu werden, so wie die Band Arctic Monkeys, die ihren ersten Auftritt bei Myspace hatte, oder die Schottin Sandi Thom, die Abend für Abend in ihrem Keller Konzerte gab, die sie als Video ins Netz stellte - und prompt einen Plattenvertrag bekam. Was aber, wenn diejenigen, deren Filme bei Youtube zum Hit werden, plötzlich auf den Gedanken kommen, die Hand aufzuhalten, um an den Einnahmen mitzuverdienen? "Google könnte eine Umsatzbeteiligung anbieten", spekuliert Bernoff. Noch aber gilt: "Die meisten Leute empfinden es als Belohnung genug, plötzlich von einem potenziellen Millionenpublikum entdeckt zu werden."
Längst tun Hollywood und die Plattenfirmen alles, um diesen Entdeckungsprozess gezielt zu fördern, und auch in Deutschland wird das "Web 2.0" gezielt für PR-Zwecke eingesetzt. Dank einer erfolgreichen Onlinekampagne schaffte es die Newcomerin Liza Li mit ihrer Single "Ich könnte Dich erschießen", einen Platz unter den Top 5 der meistgespielten Videos im herkömmlichen Fernsehen zu ergattern.
So herrscht nun allenthalben wieder Goldgräberstimmung im Netz. Jeder, dessen Idee sich irgendwie mit dem "Web 2.0"-Etikett versehen lässt, darf auf Investoren hoffen. Bei Konferenzen wie der "Demo" im kalifornischen San Diego, die als Trendbarometer der Technikbranche gilt, ließ sich das beobachten: Ein Start-up namens Heyletsgo stellte dort eine Suchmaschine vor, bei der Freunde sich gegenseitig Partys und Konzerte empfehlen, eSnips bewarb einen Dienst, der es Nutzern erlaubt, sich online darzustellen, und der Microsoft-Ableger Wallop stellte sich vor - ein Ego-Massage-Service, der ähnlich funktioniert wie Myspace.
Dass all diese "Web 2.0"-Dienste ausgerechnet jetzt ins Rennen geschickt werden, hat einen einfachen Grund: "Viele Dinge passieren gerade gleichzeitig, die sich perfekt ergänzen", sagt Bob Ivins vom Marktforscher Comscore. Foto- und Videokameras werden immer billiger, Handys können Bilder und Töne auf-nehmen, die Zahl der DSL-Anschlüsse wächst - all das erlaubt es, den Alltag besser zu dokumentieren und ständig vernetzt zu bleiben. Deutschland hinkt international noch etwas hinterher - Italien etwa hat mehr Breitband-Internetzugänge -, und das könnte der Grund dafür sein, dass das Mitmach-Netz hier nur schleppend in Gang gekommen ist.
Jetzt aber wächst die Begeisterung - insbesondere für Youtube: Von Juni bis August hat sich nach Angaben des Marktforschungsinstituts Nielsen die Zahl der deutschen Besucher auf 3,2 Millionen fast verdoppelt. Müssen Fernsehmacher daher hier und überall auf der Welt um ihre Zukunft bangen? Wohl kaum, glaubt der Web-Milliardär Mark Cuban (Broadcast. com): "Youtube ist zwar keine vorübergehende Masche, aber es ist auch kein Fernsehen", sagt er. "Es ist eine Antwort auf Langeweile - ein Weg, um Zeit zu killen."
Vielleicht erklärt dies Phänomene wie das Video "Bolivia Bug", in dem eine Raupe nichts weiter tut, als über einen Tisch zu krabbeln. Bis Anfang dieser Woche hatte der 32-Sekunden-Clip schon mehr als 2,2 Millionen Zuschauer gefunden. Seltsame Welt.
Karsten Lemm
Mitarbeit: Maximilian Geyer, Dirk Liedtke, Tobias Schmitz