J. Peirano: Der geheime Code der Liebe Seit der Scheidung meiner Eltern halsen mir beide ihre Probleme auf. Ich bin völlig überfordert

Die Abgrenzung von den eigenen Eltern ist oft schwierig (Symbolbild)
Die Abgrenzung von den eigenen Eltern ist oft schwierig (Symbolbild)
© Prostock-Studio / Getty Images
Eigentlich hätte Eva schon genug Stress im Leben. Doch nun kommen noch die Probleme ihrer Eltern hinzu. Wie kann sie sich besser abgrenzen?

Liebe Frau Dr. Peirano,

ich (25,w) studiere Medizin. Das Studium ist sehr anspruchsvoll, und ich merke, dass ich immer weniger Energie dafür habe. Meine Eltern haben sich vor zwei Jahren getrennt. Mein Vater hat seit Jahren (wie lange, weiß ich nicht genau) ein Alkoholproblem und hat deswegen auch seinen Job in der Geschäftsführung verloren. Meine Mutter war danach die Stärkere in der Beziehung und hat alles gemacht: Sie hat Geld verdient, sich um das Haus gekümmert und versucht, meinen Vater zu unterstützen. Aber die Stimmung zu Hause war sehr angespannt, und irgendwann hat meine Mutter meinen Vater gebeten, auszuziehen.

Am Anfang war ich erleichtert, aber dann ging es beiden Eltern wirklich schlecht. Ich fange mal mit meinem Vater an: Er machte alle anderen für seine Probleme verantwortlich: sein Vorgesetzter, die Politik, seine Freunde, die ihn im Stich gelassen haben, sein Arzt, der seine Knieprobleme nicht richtig behandelt hat, und meine Mutter, die kein Verständnis für ihn hatte. Mein Vater hat seit einem Jahr eine neue Freundin, aber die ist auch keine Unterstützung, weil sie selbst so viele Probleme hat. Ich denke, sie ist mit ihm zusammen, weil sie nicht allein sein kann. Mein Vater ist jetzt 58 und hat ziemlich abgebaut. Er sitzt oft zu Hause, sieht fern und verlässt die Wohnung maximal zweimal pro Woche.

Meine Mutter hat nach der Trennung eine Art psychischen Zusammenbruch gehabt, obwohl die Ehe so belastend für sie war. Sie meint, sie steht nach 30 Jahren Beziehung vor dem Nichts und kann jetzt alleine alt werden, weil sie mit 60 Jahren keinen Partner mehr findet. Sie war früher sehr elegant und hat auf ihr Aussehen geachtet, Sport gemacht und sich gesund ernährt. Seit ungefähr zehn Jahren und insbesondere nach der Trennung hat sie sehr stark abgenommen, ist nur noch Haut und Knochen und ist von der Kleidung sehr nachlässig.

Und ich stehe zwischen meinen Eltern. Beide erwarten, dass ich mich um sie kümmere. Ich höre ihnen schon viel zu, aber sie machen nie, das was ich ihnen rate. Nur ein paar Beispiele: Ich habe meiner Mutter geraten, wieder Yoga zu machen und ihre Freundinnen häufiger zu treffen oder auch mal ein Wochenende zu verreisen. Ich habe mit meiner Mutter oder für sie gekocht und besuche sie ungefähr ein bis zweimal die Woche, damit sie nicht allein ist. Danach bin ich sehr erschöpft, denn meine Mutter ist sehr negativ gestimmt und hat viele Ängste vor dem Alleinsein im Alter.

Mit meinem Vater ist es auch kompliziert. Ich mag seine neue Freundin ehrlich gesagt nicht besonders. Sie raucht sehr viel (auch in der Wohnung), hat kaum Tiefgang und gibt so viele Allgemeinplätze von sich so im Sinne von: "Da kann man nichts machen, das Leben ist halt hart." Oder sie schimpft, dass sie so wenig Geld hat und nichts unternehmen kann. Mein Vater und sie ziehen sich gegenseitig runter. Ich räume öfter bei ihnen auf, versuche meinen Vater zum Rausgehen zu bewegen und koche auch. Aber ich bin froh, wenn ich wieder aus der Tür bin, und nach den Besuchen bin ich so erledigt, dass ich manchmal Tage brauche, bis ich wieder normal lernen kann.

Ich weiß, dass ich mich abgrenzen müsste. Alle Freunde sagen mir das. Auch meine Schwester, die drei Jahre jünger ist und sich sehr von uns allen distanziert hat.

Aber es fällt mir so schwer, eine Eltern in ihrem Unglück einfach alleine zu lassen. 

Haben Sie vielleicht ein paar Tipps und Denkanstöße für mich?

Viele Grüße

Eva E.

Liebe Eva E.,

als ich Ihre Nachricht gelesen und mich in Sie hinein versetzt habe, kam es mir so vor, als hätte ich ein zentnerschweres Gewicht auf den Schultern. 

Zum Einen tragen Sie schon an der Verantwortung für Ihr eigenes Leben: Ein Medizinstudium ist anspruchsvoll und fordert viel Zeit und Einsatz von den Studierenden. Dann kommen noch die Themen hinzu, mit denen sich die meisten jungen PatientInnen aus meiner Erfahrung beschäftigen: Wie verdiene ich genug Geld zum Studieren? Woraus schöpfe ich Kraft für mein Studium? Wie schaffe ich es jetzt, wo ich jung bin und keine Familie habe, ein paar von meinen Träumen und Wünschen zu realisieren (z.B. zu reisen, ins Ausland zu gehen, sich sportlich oder kreativ auszuleben)? Wie teile ich meinen Tag und meine Wochen ein, damit ich mir mühsam Zeit für diese kostbaren Dinge schaffe? Wie will ich einen Partner/eine Partnerin finden und wie gestalten wir unsere Partnerschaft mit den zunehmenden Erwartungen, die heute an eine Beziehung gestellt werden?

Und dann gibt es noch die großen Themen: Wie schlimm ist die Klimakrise? Wie werden wir in 20, 50 oder 70 Jahren leben? Gibt es dann die Welt noch, an die wir gewohnt sind oder steuern wir auf eine Apokalypse zu?

Porträt Dr. Julia Peirano
© Kirsten Nijhof

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben. 

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Ich finde diese ganzen Themen wirklich sehr, sehr anspruchsvoll, und ich bemerke, dass viele Studenten und Studentinnen heute viel belasteter und durchstrukturierter sind, als ich das zum Beispiel aus meiner eigenen Studentenzeit kenne. Und das erzeugt bei vielen jungen Menschen Stress.

Ich habe die Anforderungen an Ihre Situation mal kurz aufgezählt, damit Ihnen bewusst wird, was Sie alles bereits leisten müssen. Da kommt eine ganz schön große mentale Last (mental load) zusammen.

Und obwohl das alles schon sehr viel ist, hört es sich für mich so an, als wenn Ihre Eltern Ihnen dann noch die eigenen Probleme auf Ihren Teller schieben. War das eigentlich schon immer so, dass Sie in Ihrer Familie die Rolle der starken Problemlöserin und Trösterin einnehmen mussten? Und wie kommt es, dass Ihre Schwester sich da so scheinbar mühelos entziehen kann? Ist das so ein ungerechtes Familiengesetz, das stillschweigend geduldet wird, weil es schon immer so war?

Ich kann Ihnen dringend raten, darüber mal länger nachzudenken und auch mal innezuhalten, bevor Sie Aufgaben einfach übernehmen. Machen Sie doch einmal eine genaue Auftragsklärung. Das heißt: Was möchte meine Mutter von mir - und welche Aufgaben nehme ich an und welche nicht? Was möchte mein Vater von mir - und welche Aufgaben nehme ich an und welche nicht?

Sie sind anscheinend sehr mit Ihren in der Kindheit erlernten Mustern und mit Ihren daraus entstandenen Gefühlen verhaftet - zum Beispiel lese ich Schuldgefühle aus Ihrer Schilderung heraus und die Angst, nicht genug zu sein. Gerade wenn man in einer Situation stark im Gefühl ist, kann es helfen, bewusst den Kopf anzuschalten und mal ganz analytisch zu werden.

Ich kläre als Therapeutin auch ganz offen, welche Aufträge ich erhalte und welche nicht. Ich lasse mir kurz-, mittel- und langfristige Ziele von meinen Patientinnen zeigen und prüfe, ob diese überhaupt für meinen Aufgabenbereich geeignet sind. Ich frage genau nach, welche Hilfe jemand bei der Erreichung seiner Ziele von mir braucht. Und wenn etwas nicht in meinen Aufgabenbereich fällt (z.B. eine Rechtsberatung oder eine ärztliche Untersuchung), dann verweise ich auf Juristen oder Ärzte.

Wenn ein Patient oder eine Patientin nicht genug mitarbeitet, motiviere ich zu mehr Eigeninitiative. Ich biete Protokollbögen an, bei denen erfragt wird, was die letzte Sitzung für Erkenntnisse gebracht hat und welche Schritte er oder sie unternehmen möchte, um weiter an seinen Themen zu arbeiten. Das heißt: Wenn jemand sehr passiv ist oder erarbeitete Themen nicht selbst verfolgt, dann sollte ich mich selbst zurück lehnen und nicht für den Patienten oder die Patientin aktiv werden. Denn letztlich wird der/die PatientIn durch mein Engagement immer passiver und hilfloser, und ich erschöpfe mich immer mehr. Viele Patienten werden in der Therapie aktiver und gestalten ihr Leben.

Aber ehrlich gesagt gibt es auch einige, die sich einfach beklagen wollen und nichts verändern wollen. Und da kann ich mich auf die Ziele berufen und sagen: Ohne Ziele wird das hier nichts. 

Sie könnten zum Beispiel nach der Auftragsklärung mal überlegen, was Sie gerne mit Ihrer Mutter/Ihrem Vater machen und was nicht. Vielleicht gehen Sie ja mal gerne ins Kino (und dann bitte in Filme, die auch Ihnen gefallen!) und mögen nicht kochen. Dann sollten Sie das genau so anbieten! Versuchen Sie mal auszuwerten, welche von Ihren Ratschlägen Ihren Eltern geholfen haben und welche einfach im Sand versickert sind.

Das könnten Sie auch benennen, denn damit kommt die Augenhöhe zurück. Sie könnten zum Beispiel sagen: "Mama, ich habe dir schon zig Mal geraten, wieder Yoga zu machen. Du hast dich dafür entschieden, es nicht zu machen. Also lass uns über was anderes reden." Oder: "Papa, ich habe letzte Woche deine Wohnung aufgeräumt. Jetzt ist alles wieder durcheinander. Dann brauche ich das auch nicht mehr zu machen. Ich würde gerne mit dir spazieren gehen."

Durch diese Ansagen gewinnen Sie und Ihre Eltern auch die Augenhöhe wieder, die in den letzten Jahren anscheinend verloren gegangen ist. Ich kann Ihnen noch eine Technik empfehlen: Etwas auf dem Silbertablett servieren und das Tablett abräumen. Das ist empfehlenswert, wenn Sie Widerstand erwarten. 

Und es geht so: Sie erwähnen, dass es wichtig wäre, dass ihr Vater sich medizinisch untersuchen lässt. Oder sie erzählen von einem wundervollen Restaurant in der Nähe, das gerade eröffnet hat. Dann ziehen Sie das Silbertablett weg und sagen nichts mehr dazu. Sie können einfach schauen, ob Ihre Eltern von sich aus wieder auf das Thema kommen oder nicht.

Und dann beißen Sie sich auf die Zunge und lassen das Thema genau so stehen. Tablett weg, aber Sie haben es Ihren Eltern gezeigt und es ist DEREN Verantwortung, was sie darauf machen. Die Tablett-Technik ist hervorragend, um die Eigeninitiative zu testen.

Ich würde Ihnen auch empfehlen, sich einige Sitzungen therapeutische Unterstützung zu holen, um sich abzugrenzen. Auch wenn Sie es nicht gerne hören, serviere ich Ihnen hier meine Realität auf dem Silbertablett: Wahrscheinlich wird die Situation bei Ihren Eltern eher schwieriger als besser. Ihre Eltern tun wenig dafür, um die Situation zu verbessern, und bekanntlich wird mit dem Alter auch vieles beschwerlicher und Muster lassen sich schlechter verändern.

Deshalb müssten Sie sich verändern, wenn Sie eine Zukunft haben wollen, in der Sie selbst im Mittelpunkt stehen. 

Ich wünsche Ihnen viel Kraft dabei! 

Herzliche Grüße

Julia Peirano

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