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Kulinarik-Zoff Carbonara, Pizza, Parmesan: Experte stellt traditionelle Gerichte in Frage – und entfacht Zorn in Italien

Ein Teller mit Spaghetti Carbonara
Die Zutaten für eine klassische Carbonara sind für Traditionalisten wie in Stein gemeißelt: Schweinebacke, römischer Pecorino-Käse, Eier und Pfeffer
© Panthermedia / Imago Images
Sind beliebte Traditionsgerichte wie Pizza und Carbonara "mit ihrem Ruf für Tradition und Authentizität tatsächlich auf Lügen basiert"? Das fragt ein Artikel der "Financial Times". Ja, sagt Lebensmittelhistoriker Alberto Grandi – und wird daraufhin mit Kritik beschossen. 

Den authentischsten Parmesan-Käse gibt es in Wisconsin, die erste Pizzeria der Welt eröffnete in New York und Spaghetti Carbonara ist eigentlich auch ein amerikanisches Gericht. Kurzum: "Die italienische Küche ist wirklich amerikanischer als italienisch", meint Alberto Grandi, Professor für Lebensmittelgeschichte an der Universität Parma. Mit wissenschaftlichen Belegen will der Akademiker Mythen rund um vermeintlich traditionell italienisches Essen entlarven. In einem Land, das bekanntermaßen sehr stolz auf seine Küche ist und sich bemüht, diese als immaterielles Kulturerbe anerkennen zu lassen, haben seine Aussagen Empörung und Wut hervorgerufen.

Carbonara, Pizza, Parmesan: Historische Spuren führen nach Amerika

"Alles, was ich als Italiener über italienisches Essen zu wissen glaubte, ist falsch", sagte Alberto Grandi in einem Interview mit der "Financial Times". Bei vielen klassisch italienischen Rezepten handele es sich demnach um relativ neue Kreationen. Die Erkenntnisse des Wissenschaftlers könnten "das Fundament zerstören, auf denen Italiener ihre berühmte und bekanntermaßen unflexible kulinarische Kultur aufgebaut haben", schreibt die britische Tageszeitung. Viele Speisen, für die Italien auf der ganzen Welt anerkannt und gefeiert wird, stammen laut Grandi aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Land einen Wirtschaftsboom und einen kulturellen Wandel erlebte.

"Wenn eine Gemeinschaft aufgrund eines historischen Schocks oder Bruchs mit ihrer Vergangenheit ihres Identitätsgefühls beraubt wird, erfindet sie Traditionen, die als Gründungsmythen fungieren", erläutert der Experte. Die Nation habe demnach eine Identität gebraucht, die dabei helfen sollte, vergangenen Kämpfe zu vergessen, während diejenigen, die damals massenhaft nach Amerika ausgewandert waren, sich nach Mythen gesehnt hätten, die ihre Herkunft würdigen. In diesem Kontext scheint es kaum verwunderlich, "dass viele Zubereitungen aus der Geschichte der letzten 50-60 Jahre und aus Wechselwirkungen mit der atlantischen Kultur stammen", erörtert der Professor in der italienischen Tageszeitung "La Repubblica".

Pizza beispielsweise sei vor dem Krieg nur in wenigen süditalienischen Städten zu finden gewesen. Dort sei das heute wohl beliebteste italienische Gericht von der Unterschicht auf der Straße zubereitet und gegessen worden. Die Recherchen Grandis deuten darauf hin, dass das erste Restaurant, das ausschließlich Pizza servierte, 1911 nicht in Italien, sondern in New York eröffnet wurde.

Hitzige Diskussion in Italien

Die Carbonara, um die sich unter anderem der Mythos rankt, es handele sich um ein Traditionsgericht italienischer Holzkohlearbeiter, sei zwar in Italien erfunden worden – allerdings nicht mit italienischen Zutaten. Ein einheimischer Koch soll das Pasta-Gericht erstmals 1944 bei einem Abendessen in Riccione für die US-Armee zubereitet haben. "Die Amerikaner hatten fabelhaften Speck, sehr gute Sahne, etwas Käse und Eigelbpulver", erzählt Grandi. Über diese Geschichte seien sich die meisten Experten einig. Ebenso wie über die Tatsache, dass das älteste Rezept für die Carbonara 1952 in Chicago gedruckt wurde.

"Little Italy Pizza"-Restaurant in New York
Auswanderer, die vor allem aus dem Süden Italiens in die USA zogen, brachten ihre vermeintlichen Traditionsgerichte mit sich. Von Amerika aus erlangten einige Gerichte – wie die Pizza – schnell weltweite Bekanntheit.
© Levine Roberts / Imago Images

Eine weitere Spur führt in den US-Bundesstaat Wisconsin, nach Angaben des Professors der einzige Ort, an dem man heutzutage echten Parmesan-Käsen findet. Die Jahrtausende alte Spezialität habe in der Original-Version maximal zehn Kilo gewogen, sei von einer schwarzen Kruste umgeben gewesen und hätte eine fettere und weichere Textur aufgewiesen. In dieser Art und Weise finde man Parmesan heutzutage nur noch in Wisconsin, so der Experte. Das liege vermutlich daran, dass Einwanderer aus Italien dem traditionellen Rezept treu geblieben sind, während sich die Zubereitungsweise im Ursprungsland stetig weiterentwickelt habe. Auch beliebte Dessert-"Klassiker" wie Panettone und Tiramisu seien erst wenige Jahrzehnte alt – diese beiden Gerichten seien zudem kommerzielle, von der Lebensmittelindustrie erfundene Produkte.

Bereits in der Vergangenheit hat der Wissenschaftler mit seinen Aussagen angeeckt. Er erntete unter anderem Kritik vom italienischen Botschafter in der Türkei und von Fernsehmoderatoren. Dieses Mal schlug die Berichterstattung höhere Wellen. "Anhand fantasievoller Rekonstruktionen werden die am tiefsten verwurzelten nationalen kulinarischen Traditionen bestritten", zitiert der "Guardian" Italiens größten Bauernverband Coldiretti. Die Vereinigung zeigt sich empört angesichts der "Hypothesen über Parmesan und den in Wisconsin in den USA hergestellten Parmesan – dem Heimatland des gefälschten Käses 'Made in Italy'."

"Wir verwechseln Wurzel mit Identität"

"Experten und Zeitungen sind neidisch auf unseren Geschmack und unsere Schönheit", meint Matteo Salvini, stellvertretender Ministerpräsident und Vorsitzender der rechtsextremen Lega. Aus Sicht des Politikers sind Lebensmittel und die italienische Küche seit Langem ein Symbol der nationalen Identität. Für Alberto Grandi handelt es sich hingegen um "Identitätsdimension jenseits aller Vernunft." In der Vergangenheit hat das "oft obsessive Streben nach 'Authentizität'", wie es die "Financial Times" nennt, bereits einige Male für Absurditäten gesorgt. Die Carbonara zum Beispiel zeichnet sich in den Augen von Traditionsverfechtern durch eine Reihe immer gleichbleibender Zutaten aus. Diese zu verändern, kann schnell auf massive Kritik stoßen. Gleiches gilt für viele andere Nudelgerichte.

Im Jahr 2015 gab die Stadt Amatrice eine offizielle Erklärung heraus, um den mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Küchenchef Carlo Cracco zu korrigieren, nachdem er offenbart hatte, dass er seiner Amatriciana, ein beliebtes Spaghetti-Gericht, gerne Knoblauch hinzufügt. Eine Zutat, die das Original-Rezept angeblich nicht vorsieht und von der Stadt deshalb wohlwollend als "Versprecher" bezeichnet wurde. "Der Punkt ist, dass wir Identität mit Wurzeln verwechseln", findet Grandi. Er verstehe nicht, warum seine wissenschaftlichen Belege so kontrovers diskutiert werden. "Ich rekonstruiere eine historische und philologische Korrektheit der Geschichte dieser Gerichte", stellt er klar. Die Qualität italienischer Lebensmittel oder Produkte habe er nie in Frage gestellt.

Quellen: "Financial Times", "La Repubblica", "The Guardian"

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