Das Menü ist so ungewöhnlich wie das Restaurant, in dem es auf einer großen dunkelgrünen Tafel angepriesen wird: vorneweg Appetithäppchen mit in Merlot geschmortem Bisamratten-Ragout und Granatapfelsamen, ein kostenloser Gruß des Kochs. Als Vorspeise Krähenbrust auf einem Heidelbeerbett an Maronenmus. Dann Bratwurst von "Schiphol-Gänsen" – erlegt im Umfeld des Amsterdamer Flughafens – mit Spitzkohl und Kartoffelpüree. Und als Dessert ein Brombeer-Parfait, dazu Sirup vom Japanischen Staudenknöterich, einem stark wuchernden Unkraut aus Asien. "Foodguerilla" – der Name des kleinen Lokals ist Programm.
Normalerweise wird hier mit Lebensmitteln gekocht, die im Großhandel aufgrund kleiner Fehler aussortiert werden oder deren Verfallsdatum bald abläuft. Das ungewöhnliche Gasthaus liegt in einer Industriebrache am Rande der niederländischen Universitätsstadt Breda. Errichtet wurde es im Stil eines Schweizer Chalets aus alten Backsteinen, Balken und Brettern; ein Großteil des Materials stammt aus Schutt und Abbruchmaterial, die Glasfenster etwa wurden aus Abrisshäusern gerettet, Tische und Stühle vom Sperrmüll.
"Foodguerilla" ist ein Statement gegen die Wegwerfgesellschaft. Wie all die anderen Geschäfte, Handwerksbetriebe und Künstlerateliers, die sich in dem neu geschaffenen Alternativviertel Stek von Breda niedergelassen haben. Was sie verbindet, ist das Ziel, aus vermeintlichem Abfall wieder Nützliches und Schönes zu schaffen.
Essen landet auf dem Müll
Eingeladen zum "Plaagdieren Diner", zur Erlebnisgastronomie mit Tieren, die gemeinhin als lästige Schädlinge gelten, haben die Amsterdamer Künstler Rob Hagenouw und Nicolle Schatborn. Mit ihrer "Keuken van het ongewenst Dier", der Küche der unerwünschten Tiere, starteten sie vor einigen Jahren ein aufsehenerregendes Kunstprojekt.
"Wir finden es skandalös, dass Arten wie Bisamratten, Nutria, Krähen oder Tauben als minderwertig betrachtet und als wertlose Kadaver vernichtet werden", sagt Hagenouw.
Jedes Jahr werden weltweit so viele Lebensmittel weggeworfen, dass man man davon zwei Milliarden Menschen satt machen könnte. In den Niederlanden liegt die Verschwendung mit knapp 600 Kilogramm pro Kopf und Jahr sehr hoch. Ziel der EU ist es, den Müll aus verwertbaren Lebensmitteln bis 2025 zu halbieren.
Doch moralische Appelle, so lehrt die Erfahrung, bewirken nichts. Die Menschen finden es zwar bedauerlich, dass so viel Brot, Fleisch und Gemüse vergeudet wird, ändern aber ihr Verhalten nur zögerlich.
"Wir wollen die Leute auch nicht belehren und ihnen sagen, tut dies oder tut das besser nicht. Wir möchten Aufmerksamkeit wecken und Gelegenheiten bieten, neue Erfahrungen zu sammeln – wie den Geschmack von Bisam- oder Krähenfleisch kennenzulernen", sagt Rob.

Krähen zupfen als Statement gegen die Wegwerfgesellschaft
Nachmittags hat er noch auf einem Holztisch vor dem Restaurant Krähen gerupft und mit wenigen routinierten Handgriffen die Brustfilets herausgeschnitten. Abends zum Dinner erscheint er im frisch gebügelten schwarzen Hemd mit weiß aufgesticktem Projekt-Logo statt in zerknitterter Camouflage-Jacke. Der Stoppelbart ist abrasiert, eine schwarze Wollmütze bedeckt sein kahles Haupt. Rob will überzeugen, und dafür muss auch das Outfit stimmen. Er ist der Mann für die Bühne. Nicolle die feinsinnige Koordinatorin, die meist im Hintergrund bleibt, Kontakte knüpft und die Initiative vorantreibt.
23 Gäste haben sich an diesem Abend im "Foodguerilla" eingefunden, experimentierfreudige Studenten ebenso wie ein Ehepaar in den Siebzigern – zwei Gourmets, die "mal was Neues" ausprobieren wollen – und einige Nachbarn aus dem Stek.
Ein junges Paar aus Amsterdam, das schon einmal beim Plaagdieren-Diner dabei war, ist die rund einhundert Kilometer hergefahren, um dabei zu sein. Alle sechs Tische sind besetzt. Während Gastkoch Ben Draaijer und sein Team in der offen einsehbaren Küche das Bisam- Ragout appetitlich auf Holzofenbrotscheiben anrichten, erklärt Rob Hintergründe und Ziele des Projekts.
Mit Wildgänsen, die in der Nähe des Amsterdamer Flughafens Schiphol nach Futter suchen, habe vor sechs Jahren alles angefangen. Damit nicht allzu viele Gänse den Flugzeugen in die Quere kommen, werden jedes Jahr über 10.000 von Jägern geschossen oder von Tierfängern mit Kohlendioxid erstickt. "Was geschieht mit diesen Tieren?", fragten sich Nicolle und Rob, die in der Künstlerkolonie "Nieuw en Meer" in Sichtweite zum Flughafen leben.
Anders als in Deutschland gilt Gans in den Niederlanden nicht als Leckerbissen.
"Viele der stattlichen Vögel, die ausgewachsen doppelt so schwer wie ein schlachtreifes Masthähnchen sind, landen stattdessen in der Tierkörperbeseitigung und werden zu Futter verarbeitet oder verbrannt", sagt Rob. Er und Nicolle taten das, was Künstler gern tun: Sie provozierten – und boten das Fleisch von Schiphol-Gänsen erstmals einem zurückhaltenden Publikum als gesunde Alternative zu Fleisch aus Massentierhaltung an.
Den beiden Aktionskünstlern wurde klar, wie sehr Essverhalten kulturell geprägt ist. Während die Römer noch gern Schmetterlingsraupen verspeisten, sind Insekten heute in Europa ein Tabu. Das Gleiche gilt für Krähen, bis ins 19. Jahrhundert hinein noch ein weit verbreitetes Armenessen. Im Nachbarland Belgien bot bis vor zehn Jahren noch manche Traditionsgaststätte Bisamratten als "Waterkonijn", Wasserkaninchen, an. Der im vergangenen Jahr verstorbene Gourmet- Papst Wolfram Siebeck war davon bei einem Besuch angetan. "Es schmeckte nicht schlecht. Es hätte auch Fasan sein können", urteilte er.
Ekelgefühle gegenüber ungewohnten Nahrungsmitteln sind nicht angeboren, sondern werden erlernt. Ursprünglich sollten sie Menschen davor schützen, mit Krankheitserregern in Kontakt zu kommen. Doch wovor wir uns ekeln, verändert sich und hängt davon ab, was in unserer Familie und Umgebung als ekelhaft gilt. Wer etwa nicht schon als Kind den Geschmack des schwedischen Nationalgerichts Surströmming kennengelernt hat, wird kaum davon kosten mögen. Die vergorenen Heringe stinken infernalisch nach vergammeltem Fisch, dass es einem die Tränen in die Augen treibt. Äußerst gewöhnungsbedürftig sind auch Delikatessen wie glibbrige Glasaale im Baskenland oder das schottische Haggis, bestehend aus einem Schafmagen, der überwiegend mit Herz, Leber, Lunge und Nierenfett gefüllt ist.

Kinder mögen Pony-Burger
Aus dem Kunstprojekt zum niederländischen Tabu "Wildgans" ist inzwischen eine aufkeimende Bewegung und ein kleines Unternehmen entstanden, das mit einem Netzwerk von Jägern, Metzgern und Köchen sowie einer renommierten Amsterdamer Räucherei, einem Suppenhersteller und einem Bioladen zusammenarbeitet.
Mehrmals im Jahr veranstalten die Aktivisten von "Keuken van het ongewenst Dier" in unterschiedlichen Restaurants ihre Schädlings-Gourmetdinner und Workshops, bei denen Teilnehmer lernen können, wie man Krähen und Tauben rupft oder Bisamratten häutet und ausnimmt. Außerdem sind die beiden Künstler mit zwei Food- Trucks und einem kleinen Team von Unterstützern auf Märkten im ganzen Land präsent. Sie informieren die Marktbesucher und preisen ihnen Produkte von "unerwünschten Tieren" an: Bisamragout, gebratene Krähenbrust, Taubenbouillon, Japanische Austern, geräucherte Gänsebrust oder Fleisch von ausrangierten Rennpferden, das sie im Brötchen mit Mayo, Salat und Röstzwiebeln als "My Little Pony-Burger"
verkaufen.
"Rennpferde sind für ihre Besitzer nur kurzzeitig wirtschaftlich interessant", erläutert Rob. "Wenn sie nach ein paar Jahren nicht mehr die gewünschte Leistung bringen oder sich verletzen, ist das oft ihr Todesurteil."
Der Pony-Burger helfe dabei, die se Geschichte zu erzählen. "Wir sprechen damit vor allem Kinder und Jugendliche an. Die sind sehr neugierig, was es damit auf sich hat.
Meistens haben sie keine Hemmungen, den Burger auch zu probieren.
Sie mögen ihn, nur die Mütter mögen ihn nicht", sagt er, und man sieht ihm an, wie viel Freude es ihm bereitet, Tabus zu brechen und Menschen herauszufordern.
Einiges aus dem Sortiment kann man inzwischen sogar in einem Webshop bestellen.
Skepsis und Neugierde vor der Krähenbrust
"Unsere Renner sind klassische holländische Snacks: knusprig panierte Kroketten und Bitterballen, allerdings mit Gänsefleisch gefüllt anstelle des gewohnten Hühner oder Kalbsragouts. Das schmeckt sogar Leuten, die eigentlich Gans nicht mögen", sagt Nicolle. Profitabel ist ihre Firma längst noch nicht.
Sie sagen, es falle ihnen schwer, wie Unternehmer zu denken.
Als die Krähenbrust auf den Tisch kommt, blicken die Gäste ebenso neugierig wie skeptisch.
Zwei scharf angebratene Filetstücke ragen aus der dunkelblauen Heidelbeersauce, mit Walnüssen gekrönt, umgeben von einer Spirale aus goldbraunem Maronenmus. Jeroen Evers schiebt sich als Erster ein Stück des dunkelroten Fleisches in den Mund. Es ist innen noch rosé, wie ein gutes Steak. Jeroen ist Buchhalter in einer nahe gelegenen Firma und Hobbyjäger. Er habe schon viele der Rabenvögel geschossen, weil sie sich in den vergangenen Jahren stark vermehrt hätten und Schaden in der Landwirtschaft anrichteten.
Doch er habe noch nie eine Krähe gegessen. "Wunderbar", sagt er, "erstaunlich!" Sein Tischnachbar Ko Baljet ist ebenfalls begeistert: "Das ist wie ein gutes Stück Rinderfilet, mit einem Hauch von Eisen- und Lebergeschmack." Er ist Schreiner und zimmert in seiner Werkstatt im Stek rustikale Möbel aus Paletten und Holzresten. Ihm gegenüber sitzt Babette Backers und stochert unentschlossen in ihrem Teller herum, bis sie sich endlich ein kleines Stück Krähe abschneidet.
Einen gewissen Ekel verspüre sie schon. Normalerweise esse sie kein Fleisch, weil sie die Bedingungen in der Massentierhaltung ablehne. Doch auch sie staunt über den "angenehm pfeffrigen" Geschmack.
"Wenn die Tiere schon umgebracht werden, sollte man sie auch essen", sagt die Tourismusexpertin. Das sei eine echte Alternative zum Industriefleisch.
Schäden durch Bisamratten
Beim Dessert ist die Stimmung im Foodguerilla-Restaurant hörbar gelöst.
Die meisten Dinner-Teilnehmer sind positiv überrascht. Das Konzept der Aktion funktioniert: Überwiegend drehen sich die Gespräche um die vermeintlichen Plagegeister, Tier- und Artenschutz, industrielle und ökologische Landwirtschaft, den Trend zu veganem Essen oder um Verschwendung. Alles wurde aufgegessen, niemand ließ ein Gericht zurückgehen. Nur bei der kurz gebratenen Krähenbrust gab es einige Vorbehalte. "Was war am besten?", fragt Rob zum Abschluss. Beim spontanen Ranking gewinnt das Amuse-Gueule mit Bisamragout knapp vor der Gänsebratwurst. Der Geschmack des Bisamfleisches: zart, würzig, mit einem Hauch von Wild, irgendwo zwischen Kaninchen und Feldhase.
Kritik an dem Konzept von "Foodguerilla" kommt vor allem von niederländischen Deichschützern. Die fürchten, dass ein Markt für Nutria und Bisamratten entstehen könnte und die Tiere dann noch mehr Schaden anrichten, als sie es ohnehin tun – die Ratten unterhöhlen mit ihren Gängen und Erdbauten jenes ausgedehnte Dammsystem, das die Niederländer vor Hochwasser und Sturmfluten schützt. Ein sensibles Thema in einem Land, das in weiten Teilen nur knapp über dem Meeresspiegel liegt, teils sogar darunter.
Zwar ist die kommerzielle Bisamrattenzucht in den Niederlanden verboten, aber wenn die Tiere erst mal als Delikatesse gelten, so die Befürchtung, könnten findige Geschäftemacher sie dennoch vermarkten. Außerdem trügen einige wenige Tiere gefährliche Krankheitserreger in sich, die grippeartige Symptome beim Menschen auslösen könnten.
Nicolle und Rob wollen trotzdem auch weiterhin Bisamfleisch zur Verkostung anbieten – und zwar ausdrücklich nicht kommerziell.
Wenn das Fleisch vorsichtig zerlegt und gut durchgegart werde, bestehe für den Verbraucher kein Risiko. "Zudem haben die Jäger und Schlachter, mit denen wir zusammenarbeiten, sehr viel Erfahrung bei der Beurteilung, ob ein Tier krank ist oder nicht", sagt Nicolle. Sie richteten sich nach den üblichen EU-Vorschriften. Auffällige Tiere würden sofort aussortiert. Und Rob ergänzt: Statt die unerwünschten Wühler einfach zu verbrennen, sollten die Wasserverbände das schmackhafte Fleisch und das weiche, wertvolle Fell günstig verkaufen.
"Sie könnten das Monopol darauf haben und damit sowohl die Qualität als auch den Markt kontrollieren." Ob das realistisch ist? Derzeit wohl kaum. Aber genau das zeichnet Künstler aus – Dinge zu denken, die sich andere im Traum nicht oder noch nicht vorstellen können.
