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Die neue Lust am Essen Darum ist es uns so wichtig, wie wir uns heute ernähren

Niemals achteten so viele Menschen so genau auf ihre Kost. Essen gilt als der neue Pop, sagt die Ernährungswissenschaftlerin Dr. Margareta Büning-Fesel. Und erklärt, was es auf sich hat mit Trends wie Paläo-Diäten und Gluten-Verzicht.
Interview von Rainer Harf und Olaf Tarmas

GEO WISSEN: Frau Dr. Büning- Fesel, immer mehr Menschen essen glutenarm, laktosefrei, fleischlos – oder nach dem Paläo-Konzept sogar viel Fleisch, wie in der Steinzeit. Sind solche Ernährungsweisen sinnvoll?

Margareta Büning-Fesel: Grundsätzlich begrüße ich es natürlich, dass gesundes Essen bei so vielen Menschen hoch im Kurs steht. Dennoch muten einige Trends befremdlich an. Bisweilen wirkt es, als sei die Ernährung für manche zu einer Art Ersatzreligion geworden. Oder wie es kürzlich in einer Studie hieß: Essen ist der neue Pop.

Für nicht wenige Menschen ist der Ernährungsstil ein Mittel der Selbstdarstellung, wie es bislang eher die Mode oder bestimmte Musikvorlieben waren. Man kann sich in manchen Kreisen durch das, was man isst, interessant machen. Fleisch beispielsweise ist eigentlich ein sehr „viriles“ Nahrungsmittel. Doch heutzutage kann sich auch ein Veganer maskulin fühlen – wenn er sein Ernährungskonzept mit einer gewissen männlichen Konsequenz durchzieht. 

Weshalb ist es uns heute so viel wichtiger als früher, dass die Ernährung möglichst gesund ist?
Einerseits erleben wir hierzulande einen immer stärkeren Drang zur Selbstoptimierung. Immer mehr Menschen streben danach, ihren Körper durch Fitness – und auch durch besondere Ernährungsweisen – bestmöglich zu formen und gesund zu halten. Verbunden damit ist bei vielen auch das Ideal eines an Nachhaltigkeit orientierten Lebensstils; daher liegen Vegetarismus und Bio-Kost so stark im Trend.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Die moderne Welt wird zunehmend komplex, unübersichtlich – und erzeugt bei immer mehr Menschen das Gefühl, sie könnten als Einzelne nur wenig bewirken, um etwas zum Positiven zu verändern. Daher setzen sie an jenen Punkten an, über die sie noch am ehesten Kontrolle haben: beim Konsum, beim Sport – und eben beim Essen.

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Sind die neuen Ernährungskonzepte tatsächlich besonders gesund?

Aus wissenschaftlicher Sicht ist ganz klar: Sie sind meist nicht gesünder als bewährte, auf Gesundheit ausgerichtete Ernährungsweisen. Aber sie sind eben neu, exotisch und dadurch interessanter. Und: Es geht bei diesen Konzepten eben nicht nur um gesunde Ernährung, sondern meist auch um Symbolik, um ein Zugehörigkeitsgefühl.
Dadurch, dass man sich auf eine bestimmte Art ernährt, wird man Teil einer Community, die sich gegen andere abgrenzt – und Anspruch erhebt auf die „einzig wahre“ Ernährung. Und so kommt es zu dem absurden Phänomen, dass sich verschiedene angeblich gesunde Ernährungskonzepte diametral widersprechen. Eine vegetarische Ernährungsweise etwa propagiert das genaue Gegenteil der Steinzeit-Diät mit viel Fleisch. Eine Low-Fat-Diät setzt auf Kohlenhydrate, Low-Carb wiederum streicht Kohlenhydrate vom Speiseplan.

Zudem darf man nicht vergessen, dass hinter neuen Trends auch kommerzielle Interessen stecken. Das zeigt die Mode der Superfoods: Exotische Chia-Samen lassen sich um ein Vielfaches teurer verkaufen als langweilige Leinsamen. Die Inhaltsstoffe der beiden Saaten sind jedoch sehr ähnlich und somit auch die gesundheitliche Wirkung.

Verfechter der „Steinzeit-Diät“ mit viel Obst, Gemüse und Fleisch – aber ohne Getreide, Milchprodukte und Hülsenfrüchte – behaupten, sie sei die natürlichste und mithin beste Ernährung für den Homo sapiens.

Das ist schlicht Unsinn. Biologisch betrachtet ist der Mensch ein Allesfresser und obendrein kulturell und auch genetisch extrem anpassungsfähig. Er hat sich körperlich längst an den Verzehr von Getreide und Milchprodukten adaptiert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser Verdauungssystem eben doch – anders als oft fälschlicherweise behauptet – von dem unserer Vorfahren.

In einem anderen Punkt gleichen wir unseren Ahnen allerdings schon: Wir sind genetisch nach wie vor darauf programmiert, viel zu essen, solange etwas da ist, um für magere Zeiten vorzusorgen. Wir haben keinen Warnmechanismus, der uns davon abhält, zu viel zu essen. In der heutigen Überflussgesellschaft müssen wir immer erst lernen, damit umzugehen, maßvoll zu sein. Und so unseren genetisch fixierten Hang zur Völlerei zu zügeln.

Gibt es Ernährungstrends, die Sie für ungesund halten?

Nein. Wir können uns an extrem viele Lebensmittelangebote anpassen. Diese Flexibilität zeigt sich ja auch in der weltweiten Vielfalt an Ernährungsweisen: Der Speiseplan der Massai mit viel Maisbrei und sehr selten Fleisch und der Inuit mit sehr viel Fisch und Fleisch könnte nicht unterschiedlicher sein. Gefährlich kann es dann werden, wenn sich Schwangere vegan ernähren oder Babys ausschließlich vegan essen sollen.

Worin liegt die Gefahr?

Als Veganer muss man schon sehr gut informiert sein, um wirklich alle Nährstoffe – wie zum Beispiel Vitamin B12 – in ausreichender Menge aufzunehmen und so der Gesundheit nicht zu schaden. Und gerade für die körperliche und geistige Entwicklung von Kindern ist es unabdingbar, dass sie mit sämtlichen Nährstoffen gut versorgt sind.

Welche der neuen Trends halten Sie schlicht für unsinnig?

Ein Beispiel: Mittlerweile verzichten rund zwölf Prozent der Deutschen auf Produkte, in denen die Zuckerarten Laktose und Fruktose oder das sogenannte „Klebereiweiß“ Gluten enthalten sind. Bei Großstädtern liegt der Anteil nach eigenen Angaben gar bei 16 Prozent, bei jungen Erwachsenen bis 29 Jahren bei 19 Prozent. Natürlich gibt es tatsächlich Unverträglichkeiten oder Krankheiten, bei denen man zum Beispiel kein Gluten zu sich nehmen darf.

Davon allerdings sind sehr viel weniger Menschen betroffen, bei Gluten etwa ein Prozent der Bevölkerung. Viele Verbraucher kaufen die oft sehr teuren Speziallebensmittel aufgrund völlig haltloser Theorien: etwa der, dass Gluten den Körper von innen verklebe.

Weshalb glauben so viele Menschen derartigen Theorien?

Weil sie ihr Grundvertrauen in Lebensmittel verloren haben, sie suchen nach Orientierung, nach Halt. Sie reagieren auf ihre Unsicherheit durch Verzicht auf bestimmte Dinge, die sie symbolisch als ungesund brandmarken. Alles, was frei von Ungesundem ist, ist für sie per se gesund.

Wie kann man sich am besten zurechtfinden zwischen all diesen Ernährungskonzepten, was sind Maßstäbe für eine gute Ernährung?

Im Grunde ist das gar nicht so schwer. Kaum einer braucht für seine Gesundheit eine besonders rigide Ernährungsweise.

Viel wichtiger sind ein paar Faustregeln und ein gutes Gespür für die eigenen Bedürfnisse. Ausgewogenheit und Vielfalt sind die wichtigsten Orientierungspunkte. Dazu gehört, dass man viele pflanzliche Lebensmittel zu sich nimmt, also vor allem Obst und Gemüse, aber auch Brot, Getreide und Beilagen. Bei Fisch, Fleisch und Milchprodukten sollte man sich ein wenig mäßigen. Und mit Fetten, Ölen, Süßigkeiten und Alkohol sparsam umgehen.
Man kann die Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft auf folgende Kernaussagen reduzieren: weniger essen, mehr bewegen, echte Lebensmittel essen, vor allem Pflanzen. Punkt.

Was sind „echte“ Lebensmittel?

Keine zu stark verarbeiteten Produkte mit vielen künstlichen oder versteckten Zusatzstoffen wie etwa Tütensuppen oder Fertigpizzen.
Natürlich spricht nichts dagegen, wenn man hin und wieder zu einem Fertiggericht greift. Die Faustregeln sind ein grober Rahmen, an dem man sich orientieren kann, ohne dass man ihn jeden Tag sklavisch einhalten muss.
Man sollte auch seinem gesunden Menschenverstand und schlicht seinem persönlichen Appetit vertrauen.

Also in den Körper hineinhorchen?

Ja. Wer sich wohlfühlt, keine Verdauungsprobleme und keine großen Gewichtsschwankungen hat, der liegt nicht so falsch mit der Ernährung – selbst wenn er ein paar Pfunde zu viel hat. Neuere Studienergebnisse zeigen, dass ein Body-Mass-Index von 25 bis 30 – also leichtes Übergewicht – nicht automatisch gesundheitsschädlich ist.

Sollte möglichst jede Mahlzeit perfekt ausbalanciert sein – oder ist es ratsamer, in größeren Bögen zu denken: in Tagen oder Wochen?

Nicht jede einzelne Mahlzeit muss ausgewogen sein. Noch nicht einmal jeder Tag ist entscheidend. Wichtig ist viel eher, dass man sich über einen längeren Zeitraum hinweg ausgewogen und vielfältig ernährt.

Je akribischer man sich einem bestimmten Ernährungsplan verpflichtet fühlt, desto weniger Spaß macht das Essen – und desto eher weicht man über kurz oder lang doch wieder von dem gefassten Plan ab. Im Zweifel ist man frustriert darüber, dass man sein Vorhaben nicht konsequent durchgehalten hat und somit gescheitert ist.

Mir gefällt das aus Holland stammende Konzept des Balance-Tages: Es sieht vor, dass man ohne schlechtes Gewissen ruhig mal über die Stränge schlagen kann mit viel Fett, Zucker oder Fleisch. Dafür soll man sich am folgenden Tag dann zurückhalten. In der Bilanz ist auch das ausgewogen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, pro Tag 400 Gramm Obst und Gemüse zu verzehren.

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung geht sogar noch weiter: Sie rät Verbrauchern, pro Tag 400 Gramm Gemüse und 250 Gramm Obst zu sich zu nehmen. Derart konkrete Daten sind theoretische Vorgaben mit einem Sicherheitszuschlag, die auf einen Präventionseffekt gegenüber bestimmten Krankheiten abzielen. Doch solche Empfehlungen sind für die meisten Menschen überhaupt nicht alltagstauglich. 650 Gramm Gemüse und Obst pro Tag – das schaffen die wenigsten.

Derartige Empfehlungen führen bei vielen Personen, die sich im Zweifel gar nicht ungesund ernähren, zu einem schlechten Gewissen. Zudem ist es nicht ratsam, bestimmte Mengen vorzugeben, die für alle gleichermaßen gelten sollen. Denn dabei wird weder die Körpergröße noch das Gewicht oder Geschlecht berücksichtigt. Oder die Frage, ob ein Mensch sich damit in seinem Körper wohlfühlt. Denn eines steht fest: Jemand mit erhöhtem Body-Mass-Index, der sich aber vielseitig ernährt und mit sich zufrieden ist, lebt vermutlich gesünder als jemand, der sich unter großen Qualen etwas versagt und bei optimalem BMI von unter 25 ein freudloses Leben führt. Vorgaben hin oder her: Jeder Mensch muss für sich herausfinden, was ihm guttut.

Wird die Freude am Essen bei solchen Vorgaben unterschätzt?

Absolut. Und damit ein für die Gesundheit wesentlicher Pfeiler. Genuss ist unglaublich wichtig und kommt speziell in Deutschland oft zu kurz. Wer sich gewissermaßen dauernd selbst überwacht, stets akribisch darauf achtet, das Richtige zu essen, womöglich noch bei jeder Mahlzeit die Kalorien zählt, der nimmt sich ein großes Stück Lebensqualität.

Dazu gehört eine gewisse Kompetenz in Sachen Ernährung – und dass man Genießen gelernt hat. Das gelingt am besten, wenn man nicht allein kocht und isst, sondern in Gesellschaft, mit der Familie oder Freunden. Gemeinsame Mahlzeiten sind ein wichtiger Teil unserer Kultur – mit dem großen Vorteil, dass die Menschen dabei immer auch Wissen austauschen: über Vielfalt von Lebensmitteln, Zubereitungsarten und Geschmäcker.

Je mehr aber Fertigmahlzeiten oder der einsame Snack zwischendurch die Ernährung bestimmen, desto eher sinkt die Kompetenz, sich und anderen etwas Gutes zuzubereiten, sich diesen Genuss zu verschaffen. Schon Kinder sollten die Vielfalt der kulinarischen Welt kennenlernen, die Lust am Entdecken und Experimentieren.

Ich halte es für sehr wichtig, dass man schon früh im Leben gewisse Grundkenntnisse über Lebensmittelauswahl und Ernährung erwirbt: dass man weiß, woher Speisen kommen, wie sie hergestellt werden und wie man sich aus einfachen Grundnahrungsmitteln eine Mahlzeit zubereitet. Dieses Wissen sollte natürlich in der Familie vermittelt werden. Aber auch in der Schule – schließlich ist es eine Alltagskompetenz, die genauso wichtig ist wie Mathematik oder Englisch. Wer früh die Grundlagen lernt, braucht später keine ausgefeilten Ernährungskonzepte und kann eigenständig, individuell und souverän Entscheidungen über seinen Speiseplan treffen. Und obendrein beim Kochen und Essen besonderen Genuss verspüren.

Im Alltag kommen viele Menschen aber vor lauter Stress kaum noch dazu, sich Speisen selbst zuzubereiten.

Das stimmt, aber diese Grundkenntnisse sind auch für die Auswahl von Essensangeboten wichtig. Das Erfreuliche ist: Wegen des zunehmenden Gesundheitsbewusstseins ist das Angebot in vielen Kantinen, Supermärkten und sogar Bahnhofshallen heute viel reichhaltiger als noch vor wenigen Jahren. Es gibt seit einiger Zeit ja sogar „gesundheitsorientiertes“ Fast Food: Wraps mit frischem Gemüse, „Fresh Cut“-Boxen mit aufgeschnittenem Obst oder Salat mit Dressing, den man rasch im Büro zubereiten kann.

Deutschland hinkt da noch etwas hinterher, in anderen europäischen Ländern finden sich bereits viel mehr solcher Angebote. Im Vergleich sind wir noch ein kulinarisches Entwicklungsland, in dem man etwas zu naturwissenschaftlich auf das Thema Ernährung blickt und zu penibel Kalorien zählt.

Was ist gesünder: über den ganzen Tag verteilt kleine Portionen zu sich zu nehmen – oder sich bei wenigen Mahlzeiten richtig satt zu essen?

Bei den Snacks zwischendurch besteht die Gefahr, dass man kaum größere Pausen zwischen den Mahlzeiten einlegt, den Überblick verliert und vor allem das Gefühl für die Mengen, die man zu sich nimmt.

Daher ist es sinnvoller, das Essen bewusst auf einige Mahlzeiten zu verteilen und sich dann auch satt zu essen. Untersuchungen zeigen zudem: Die gleiche Kalorienzahl auf viele kleine Snacks verteilt führt dazu, dass man einen konstant hohen Insulinspiegel hat. Das wiederum hat zur Folge, dass der Körper schneller Fettdepots anlegt und man eher an Gewicht zulegt.

Folgen Sie persönlich einem bestimmten Ernährungskonzept?

Nicht im strengen Sinn. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe schon als Kind mitbekommen, wie bestimmte Lebensmittel entstehen und wie Mahlzeiten zubereitet werden. Das hat mich geprägt. Mein Großvater hat Schweine geschlachtet und Wurst hergestellt, das war für mich etwas ganz Normales. 

Trotzdem esse ich seit meinem 18. Lebensjahr kein Fleisch mehr – und nur ab und zu Fisch. Ich habe gemerkt, dass es mir persönlich damit gut geht, also bin ich dabei geblieben. Und finde immer wieder neue Lebensmittel, die ich gleichsam in das Mosaik meines individuellen Ernährungsplans einbaue. Vor einigen Jahren habe ich während eines Urlaubs in den USA gemerkt, dass es mir sehr guttut, morgens warmes Porridge mit Obst zu essen. Seitdem gehört dieser Haferbrei regelmäßig zu meinem Frühstück. Ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch in der Lage ist, die für ihn beste Ernährung für sich zu entdecken. In erster Linie sollte man dabei seinem Geschmack folgen. Und dem Gespür für den eigenen Körper.

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