Über Geschmack kann man mit dieser Frau nicht streiten. Sie weiß zu viel. Kathrin Ohla, 35 Jahre, Jeans, blonde Haare, Pferdeschwanz, ist habilitierte Psychologin. An einem sonnigen Dezembermorgen steht sie in ihrem Labor am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam und erklärt ihr liebstes Forschungswerkzeug – das Gustometer. Ein ebenso komplizierter wie teurer Apparat, mit dem sie untersuchen kann, was im menschlichen Gehirn geschieht, sobald es von der Zunge die Signale "süß, salzig, sauer, bitter oder herzhaft" empfängt: Ihre Probanden tragen für die Elektroenzephalografie (EEG) Hauben mit Elektroden, die wie Badekappen aussehen; während der Untersuchung sitzen sie in einer winzigen Kammer, abgeschirmt von akustischen und optischen Reizen. "Nur dann kann ich sicher sein, dass ich auch wirklich die Reaktionen des Gehirns auf das Geschmackssignal messe, nicht auf Lärm oder Handybilder", sagt Ohla. Aus feinen Düsen sprüht das Gustometer den Testpersonen die salzige, süße, bittere, saure oder herzhafte Flüssigkeit auf die Zigtausende Geschmackssinneszellen der Zunge. Die Nervenfasern leiten die elektrische Erregung ans Gehirn weiter; mithilfe von Algorithmen kann Ohla aus den EEG-Daten bestimmen, wie intensiv der Geschmack wahrgenommen wird und wo das Urteil "hmm, saulecker" oder "igitt, wie eklig" getroffen wird. Im präfrontalen Cortex, jener Hirnregion, die für die emotionale Bewertung von Sinnesreizen und Erinnerungen zuständig ist.
"Man kann die Abneigung gegen Bitter verlernen"
Ihr eigenes Gehirn reagierte jahrelang auf Brokkoli und Rosenkohl mit dem vernichtenden Urteil: unerträglich. Sie wünschte, es wäre anders, "grünes Gemüse ist ja so gesund". Aber was wem wie gut schmeckt, sei weniger eine Frage des Willens als eine der Gene. "Vermutlich bin ich Trägerin einer Genvariante, die dazu führt, dass ich die Bitterstoffe im Rosenkohl, die beim Kochen entstehen, besonders intensiv wahrnehme", sagt Ohla.
Unseren Vorfahren sicherte diese Sensibilität einst das Über leben, warnte sie doch vor potenziell ungenießbaren oder gar giftigen Pflanzen und Beeren. Rund 70 Prozent der Europäer sind genetisch besonders empfindlich gegen Bitterstoffe. Die Aversion gegen sie ist also angeboren, ebenso wie die extreme Vorliebe für Süßes. "Auch sie war evolutionär betrachtet ein immenser Vorteil", sagt Ohla, "Süßes enthält Kohlenhydrate, also Zucker – und damit den wichtigsten Energielieferanten für unser Gehirn und unsere Muskeln." Dass Kinder so verrückt nach Süßigkeiten sind, liege auch an ihrem enormen Wachstum, sie seien ständig auf der Jagd nach schnell verfügbarer Energie. Die gute Nachricht: "Man kann die Abneigung gegen Bitter verlernen." Und die Vorliebe für Süßes zumindest modifizieren.
Was Kathrin Ohla am Rande Potsdams erforscht, führt zum Kern aller Diätdebatten: Warum ist es so wahnsinnig schwer, abzunehmen? Warum scheitern so viele an der im Grunde doch einfachen Aufgabe, weniger Kalorien aufzunehmen, als sie täglich verbrauchen? 70 Prozent aller Diätwilligen landen nach anfänglichen, durchaus großen Erfolgen bei ihrem Ausgangsgewicht.
In den vergangenen Jahrzehnten haben Wissenschaftler ein immer präziseres Bild von jenen Prozessen gezeichnet, mit denen der Körper das Gewicht automatisch reguliert. Und häufig mit aller Macht verteidigt. Gene, Hormone, Stoffwechsel, die Milliarden Bakterien der Darmflora, die Sinne – sie alle spielen einen wichtige Rolle dabei, wie wir Nahrungsmittel wahrnehmen, verarbeiten und die Energie daraus speichern.
Der britische Ernährungsmediziner und Zwillingsforscher Tim Spector schildert in seinem Buch "Mythos Diät" eindrucksvoll, wie groß vor allem der Einfluss der Gene auf Stoffwechsel und auf Gewicht ist. Aus den Blutproben von mehr als 1000 Zwillingspaaren gewannen Spector und sein Team DNA und untersuchten sie. Vor allem das Amylase-Gen interessierte sie. Amylasen sind Enzyme, die eine wichtige Rolle beim Abbau von Zucker im Körper spielen. Je weniger Kopien dieses Gens, desto größer das Risiko, an Fettleibigkeit zu erkranken. Die zweieiigen Zwillingsschwestern Linda und Frances etwa hatten bei ihrer Geburt ungefähr gleich viel gewogen und sich ihr Leben lang ähnlich ernährt. Linda machte sogar mehr Sport als Frances und zahlreiche Diäten. Dennoch wog sie 76 Kilo, Frances nur 50 Kilogramm. Die Forscher stellten fest, dass Linda vier Kopien des Amylase-Gens besaß, Frances dagegen neun. Lindas genetisches Risiko für Fettleibigkeit war damit doppelt so groß wie das ihrer Schwester.
"Die beste Diät ist die, die zu einem passt"
Auch andere Mechanismen entziehen sich vollständig unserem Willen: So regulieren Hormone das Hunger- und Sättigungsgefühl – dummerweise nicht immer sinnvoll; der Körper kann das Hungerhormon Ghrelin ausschütten, auch wenn die Energiespeicher gut gefüllt sind. Zudem entscheidet die individuelle Beschaffenheit der Darmflora mit ihren Milliarden Mikroben, ob eine Diät mit viel Fett vorteilhaft oder sogar gefährlich ist; ob man problemlos sehr viel Kohlenhydrate essen kann oder aus der gleichen Menge mehr Kalorien gewinnt und deshalb zunimmt. Irgendwann stellen die meisten Diätwilligen fest, dass ihr Körper gegen sie konspiriert: Sie setzen ihn auf Entzug, doch er verteidigt hartnäckig jedes hundertstel Gramm Fett. Sie bleiben hart, er bleibt härter. Ein verzweifelter Kampf, der die Betroffenen unter enormen Stress setzt.
Der Internist Thomas Ebert arbeitet am Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum für Adipositas-Erkrankungen in Leipzig eng zusammen mit Ernährungsberatern und Psychologen. Gemeinsam therapieren sie Menschen mit extremem Übergewicht. Er sagt: "Ich sehe nirgendwo so viele Tränen fließen wie in der Adipositas-Ambulanz." Betroffene leiden unter dem Stigma des Dickseins und machen sich Vorwürfe, dass ihre Willenskraft zu schwach sei.
Dabei geht es gar nicht so sehr um Willen und Disziplin. Niemand sollte den eigenen Körper, die Gene, Hormone, den Stoffwechsel austricksen oder gar bekämpfen. Im Gegenteil. Abnehmen bedeutet zuallererst: verstehen. Die Abläufe des Körpers sollten zu Freunden werden – zu Verbündeten im Streben nach Wohlbefinden, Lebensfreude und Gesundheit. Die beste Diät ist deshalb die, die zu einem passt.
Niemand weiß das besser als Birgit Schramm. Für den stern beriet die Ökotrophologin, die sich auf die Behandlung von Essstörungen spezialisiert hat, drei Männer und zwei Frauen, die sich für 2018 vorgenommen haben, abzunehmen oder gesünder zu leben. Zur ihrer Beratung gehört eine ausführliche Anamnese, eine Gewichtskurve von der Kindheit bis heute, Mahlzeitenprotokolle, die Besprechung seelischer Konflikte, die Formulierung realistischer Teilziele, ein Veränderungsprotokoll.
Als Schramm mit ihrem Studium fertig war, da sei sie recht missionarisch gewesen, sagt sie. "Ich war eine überzeugte Anhängerin der Vollwertkost und hielt sie für die richtige Ernährungsweise." Heute sieht sie das Thema entspannter. Isst selbst bisweilen eine Currywurst, verschmäht vor Weihnachten weder Gänsebraten noch Rotwein. "Diät kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie Lebensführung – und welche für wen gesund und glücklich machend ist, das ist höchst individuell." Unzählige Menschen haben in den vergangenen Jahren in ihrer Praxis gesessen, Männer, Frauen, Teenager, viele mit gescheiterten Diätkarrieren, manche mit Essstörungen, alle mit der Sehnsucht, sich endlich wieder wohlzufühlen im eigenen Körper.
"Ich liebe Zucker"
Birgit Schramm hat die Pausen aus der Arbeitswelt verschwinden und die Backshops öffnen sehen. Sie hat beobachtet, wie orientierungslos Menschen vor dem Überangebot an industriell verarbeiteten, energiedichten Lebensmitteln stehen – und der Versuchung erliegen.
So wie Jens Töpper, 45 Jahre alt und SAP-Berater. Es fällt ihm wahnsinnig schwer, an einer Bäckerei vorbeizugehen, ohne ein Zimtbrötchen oder ein Stück Kuchen zu kaufen. "Ich liebe Zucker", sagt er. Süße Nachspeisen, köstliche Wiener Waffeln, die Konsistenz von Schokolade, die auf der Zunge zergeht – säße er im Labor der Geschmacksforscherin Kathrin Ohla, könnte sie beobachten, wie seine Neuronen dann feuern und das Belohnungssystem Botenstoffe ausschüttet, die ihn glücklich machen.
Vor fünf Jahren habe er mit dem Rauchen aufgehört, seitdem sei sein Appetit auf Süßes noch größer geworden, erzählt Töpper. 16 Kilo hat er in den vergangenen Jahren zugenommen, von 74 auf 91. Keine Hose will mehr passen, der Bauch stört ihn, "und ich frage mich natürlich, wo führt das hin?" Töpper ist viel unterwegs, wohnt in Hotels und isst mittags und abends mit Kunden oder Kollegen in Restaurants.
Birgit Schramm empfiehlt ihm pragmatische erste Schritte, etwa den Grundumsatz zu erhöhen – jene Energie also, die der Körper verbraucht, um seine Vitalfunktionen – Herzschlag, Atmung, Temperaturregulierung – aufrechtzuerhalten. Je höher der Grundumsatz, desto mehr Energie verbrennen Muskeln und Organe. Jede Form der Bewegung hilft dabei. Es müsse kein Zehn-Kilometer-Lauf sein, tägliche Spaziergänge, Treppensteigen, Fahrradfahren würden bereits große Wirkung entfalten.
Vor dem Besuch des Restaurants sei es zudem klug, online die Speisekarte durchzustöbern und nicht spontan zu entscheiden. "Überlege vorher: Wie befriedige ich meinen Genuss, wie versorge ich meinen Körper gut?", sagt Schramm.
Der Körper des Menschen strebt nach Gleichgewicht
Außerdem rät sie ihm, die vielen Süßigkeiten im Büro durch Zwischenmahlzeiten zumindest teilweise zu ersetzen. "Das Visuelle, das Wissen, dass die Schokolade da ist, triggert enorm." Also Äpfel, Nüsse, Naturjoghurt mit süßen Früchten auf den Tisch stellen statt Waffeln und Schokolade. "Auch die können helfen, den Stress im Büro zu bewältigen, wenn ein anstrengendes Telefonat mit einem Kunden ansteht." Schramm ist ein Fan von Zwischenmahlzeiten und stellt ihren Patienten, je nach Geschmacksvorlieben, lange Listen zusammen. Denn mit Disziplin allein sei Gier nicht niederzuringen – nur mit einem alltagstauglichen Plan.
Tanja Stoltenberg, 48, hatte überhaupt keinen Essensrhythmus mehr. Sie versorgte ihren Körper lange Zeit fast nur noch mit Snacks, Eis, Schokolade, was den Blutzucker nach oben trieb und ihren Körper zwang, massiv das Hormon Insulin auszuschütten, um möglichst schnell mit den vielen Kohlenhydraten fertigzuwerden. Doch die hohe Insulinproduktion bewirkte zugleich, dass der Blutzuckerspiegel überdurchschnittlich schnell gesenkt wurde. Die Folge: Hunger.
Der Körper des Menschen strebt nach Gleichgewicht. Das permanente, heftige Auf und Ab von Blutzucker und Insulinausschüttung ist anstrengend und erhöht langfristig das Risiko für Diabetes. Schramm empfiehlt Tanja Stoltenberg Schonkost. Morgens Porridge mit einer Banane, mittags eine Kürbissuppe, Einkäufe und Kochen sollte sie immer gut planen. "Ihr Körper muss sich erholen."
Kann man gesundes Essen lernen? Birgit Schramm ist fest davon überzeugt, und die Geschmacksforscherin Kathrin Ohla sagt: "Unser Gehirn passt seine Wahrnehmungen ständig an." Aus ihren Experimenten weiß sie, dass das Gehirn den Eindruck, den es von der Zunge empfängt, zunächst interpretieren muss. Und diese Interpretation lässt sich beeinflussen. Probanden, denen man zwei exakt identische Salzlösungen gab, bewerteten dennoch die eine als salziger. "Wir hatten ihnen vorher die Information gegeben, dass diese Probe wesentlich mehr Salz enthalte", sagt Ohla. Es ist die Erwartung, die die Geschmackswahrnehmung massiv prägt. Ein Kollege aus Oxford hat Studenten bunt glasierte Schokoerdnüsse probieren lassen. Die meisten fanden, dass die braunen stärker nach Schokolade schmeckten als die bunten. "Das zeigt sehr schön, dass man Menschen beeinflussen kann und vielleicht auch sollte", sagt Ohla.
Den Werbebotschaften der Lebensmittelindustrie könnte man gesundheitsorientierte Erwartungen entgegensetzen. "Ich persönlich würde eine Ampel für Nahrungsmittel sehr gut finden", sagt Ohla. Selbst sie und ihre Kollegen scheiterten daran, die Angaben der Nährstofftabellen zu durchschauen. Aus der Forschung wisse man zudem, dass Menschen, die sich mithilfe einer Ampel – rot für ungesund, gelb für okay, grün für gesund – orientierten, die besseren Entscheidungen beim Einkauf träfen.
"Unser Gehirn lernt, egal, wie alt wir sind"
Sie selbst hat schließlich auch ohne Ampel den Weg zu grünem Gemüse gefunden: Nachdem ein Kollege einen Vortrag über die gesundheitsfördernden Eigenschaften von Rosenkohl hielt und dessen hohen Eiweißanteil pries, machte sie einen Selbstversuch. "Ich esse wenig Fleisch und bin immer auf der Suche nach Eiweißquellen." Eine Woche lange kochte Ohla täglich Rosenkohl und überwand sich, ihn zu essen. Durch die massive Zufuhr, verbunden mit der positiven Erwartung, habe ihr Gehirn die Geschmackssignale schließlich positiv bewertet. Heute liebt sie die bitteren Röschen. "Unser Gehirn lernt, egal, wie alt wir sind", sagt sie.
Eine gute Nachricht für alle, die 2018 ihr Leben ändern wollen.
