Kürzlich hat Antonello Pessot, 58, mal wieder seinen Nachbarn besucht, den Gänsezüchter Giorgio Falengho. Sie berieten sich über das Gespenst der Vogelgrippe, darüber, welche Vorkehrungen zu treffen seien, die Mienen entschlossen, aber ohne Panik. In Gummistiefeln und Jagdhose stand Pessot wenig später inmitten einer Federwolke und lächelte. Die Wolke war graumeliert wie seine Schläfen und wogte in einer einzi- gen, rhythmischen Bewegung in Giorgios Gehege hin und her. Das Watschel-Ballett der gut 300 putzmunteren Plattfüßler schien wie zu seinen Ehren vollführt, die Schnäbel synchron mal nach links, dann nach rechts gereckt, glichen sie langhälsigen Tangotänzern. Den "Gänsekönig" - so nennen sie Antonello Pessot hier in der Gegend um Palmanova in der friulanischen Tiefebene, weil er und seine Familie sich seit mehr als 30 Jahren um die kulinarische Wertschätzung des schwergängigen Federviehs be- mühen.
Und damit die "oca", gerade in Italien, vor der Vergessenheit bewahrt haben: Die Pessots verarbeiten Gänse zu derart verführerischen Leckerbissen, dass heute die Spitzengastronomie ganz Europas auf ihrer Kundenliste steht und die erlesensten Delikatessengeschäfte rund um den Globus die Spezialitäten mit dem Familiensiegel "Jolanda de Colò" im Sortiment führen. In Deutschland können Hobbyköche die Leckereien recht problemlos in den Feinschmecker-Abteilungen von Kaufhof und Edeka erwerben. "Diese Rassen hier sind unsere Stars", sagt Patron Antonello und hebt eine graugefiederte Gans unter Protestgeschnatter in die Luft, "hier die Toulouse-Gans mit ihrem typischen Kinnlappen: Aus dieser Rasse gewinnen wir die feinste Stopfleber". Dann stemmt er ein zweites Tier in die Höhe: "Und diese hier, mit dem dunklen Höcker über den Augen, ist die heimische friulanische Hausgans: Aus ihr machen wir unsere besten Gänsewürste." Nur noch in Ausnahmefällen sind es italienische Züchter wie Giorgio, die Antonellos Betrieb mit dem Federvieh versorgen, es gibt einfach zu wenige, um den Bedarf der "Jolanda de Colò" zu decken: Bis zu 10.000 Gänse werden in dem Unternehmen am Stadtrand Palmanovas in betriebsamen Wochen verarbeitet, angeliefert im 24-Stunden-Takt aus der ungarischen Puszta, wo sie örtliche Gänsezüchter in kontrollierter Freilandhaltung und nach strengen Vorgaben ihres Abnehmers aufziehen und ein italienischer Geschäftsfreund sie in seinem Schlachthof nach Anweisung der Pessots zerlegen und entbeinen lässt. Nicht erst in Zeiten der Vogelgrippe werden die Tiere, die Ungarn verlassen, von Veterinären untersucht.
Ein kleines Denkmal inmitten der industriellen Lebensmittelproduktion
Das Gleiche geschieht inzwischen auch bei deren Ankunft im Friaul. "Eigentlich", sagen Leute wie Nachbar Giorgio, "ist Antonello ein Verrückter." Ein "Pazzo" mit Anhang. Antonello Pessot selbst ist ein neugieriger, leidenschaftlicher Wiederentdecker althergebrachter Geschmackswelten. Seine Landsleute adelten ihn mit dem Ehrentitel "Verteidiger der bäuerlichen Welt", weil er mit jedem Stück, das seinen Betrieb verlässt, ihrer Küche und deren Zutaten ein kleines Denkmal setzt inmitten der industriellen Lebensmittelproduktion und ihrem Massengeschmack Dann ist da Ehefrau Jolanda, 60, die alle Alana nennen und deren Mädchenname "de Colò" das Firmenlogo mit der Goldgans ganz zu Recht krönt: Sie setzt letztlich die Ideen des ruhelosen Geschmacksjägers an ihrer Seite in vermarktbare Produkte um und leitet Herstellung sowie Vertrieb in dem Mittelstandsunternehmen mit seinen 50 Mitarbeitern. Und neuerdings Sohn Bruno, 35, Finanzchef des Hauses, der von klein auf dabei war beim Ausprobieren der Rezepte, etwa, wie man die Gänsebrust noch feiner räuchern oder die Gänse-Mortadella noch verdaulicher kochen könne. Bruno, der sein Wirtschaftsstudium folgerichtig mit einer Diplomarbeit über die Gänsestopfleber krönte - der ersten ihrer Art im Gourmetland Italien. Am Tag als die Eltern ihre erste Gänsesalami produzierten, schwänzte er den Kindergarten.
Das geschah im Herbst 1976 - und Klein-Bruno wollte die Prozedur auf keinen Fall verpassen, ganz so, als habe er schon damals geahnt, was jener Tag für die Familie bedeuten würde. Zwei Jahre zuvor hatten die Pessots im Dörfchen Chiopris- Viscone bei Udine mit einer eigenen Gänsezucht begonnen und belieferten die Restaurants der Umgebung mit dem Gänsefleisch ihres Biohofes - den damals noch kein Mensch so nannte. Dann begegnete Antonello Luciano Curiel, einem jüdischen Metzger aus Venedig, der ihm viel erzählte über die 500 Jahre alte Kultur des Gänsefleischs in der jüdischen Küche. Curiel weihte die Pessots nicht nur in die sorgsamen Riten des Schlachtens ein, sondern auch in die Rezeptur der traditionellen Gänsesalami, mit der gläubige Juden seit jeher die "unreine" Variante aus Schweinefleisch ersetzen: In feine Würfel geschnittenes Gänsefleisch - zu zwei Dritteln aus der mageren Brust, zu einem aus den fetteren Teilen - wird mit Salz, Pfeffer und Wein gewürzt und in die Haut des Gänsehalses gestopft, bis ein pralles, trapezförmiges Säckchen daraus wird. Fest verschnürt, kommt es für einige Tage ins Warme, damit das überschüssige Fett abtropfen kann. Danach wird die Wurst für ein bis zwei Monate in gut durchlüfteten, kühlen Räumen zum Reifen aufgehängt.
Ein wahrer Geschmackstaumel auf der Zunge
Da mals gab es rund 500 Gänse auf dem Hof der Pessots, und sie produzierten pro Woche an die 30, 40 Stück dieser kräftigen, dunkelroten Salami, die ihnen die Rabbis aus Triest und Venedig für ihre Gemeindemitglieder fast aus den Händen rissen. Auch bei ihrer alten Kundschaft, den Restaurant-Besitzern, kam der "Salame d’oca giudeo" gut an. Die Wurstproduktion lief so erfolgreich, dass Antonello gleich weitere überlieferte Rezepturen ausgrub: der mit einem kleinen Anteil Fleisch aus der Schweineschulter geschmeidiger gemachte "Salame d’oca misto". Und die geräucherte Gänsebrust, die man in Italiens Norden schon im 17. Jahrhundert schätzte. Dabei werden die beiden nur durch ihre Haut zusammengehaltenen Gänsebrüste fünf Tage lang in einer Salzlauge mit Rosmarin, Piment und Wacholder aromatisiert. Später legt man sie zwei Tage zum Trocknen aus, dann werden sie - fest zusammengerollt -mit einem zarten Kunststoffdarm umhüllt und weitere fünf Tage sanft über Buchenholzfeuer geräuchert. Geschieht die ganze Prozedur nur mit einer Brusthälfte und ohne Darm, wird "Speck d’oca" daraus. In zarte Scheiben geschnitten, lösen diese Gänse-Köstlichkeiten auf der Zunge einen wahren Geschmackstaumel aus, in der mal die elegante Würze des Geflügelfleisches, mal die Aromen des Wacholders, mal die des Buchenholzes Oberhand gewinnen.
"Zu unseren ersten begeisterten Abnehmern gehörte damals Gualtiero Marchesi, Italiens Bocuse", erinnert sich Alana Pessot, "und wir waren einfach glücklich, denn das war der Beweis, dass wir richtig lagen mit unserem Weg." Gänsebrust, Gänsespeck und Gänsesalami sind noch heute die Renner im Sortiment von "Jolanda de Colò", zu dem inzwischen mehr als drei Dutzend Gänseprodukte gehören. Mit ihnen macht der Betrieb die Hälfte seines Umsatzes, die andere entfällt auf rare Rindfleisch- und Fischspezialitäten, die Antonello auf seinen Gusto-Streifzügen in aller Welt mit ins Schleppnetz nahm und seither unter dem hauseigenen Gütesiegel veredelt. 250.000 Gänse werden in den beiden klinisch-sterilen Produktionshallen mit den langen Marmorbänken und den hochmodernen Kühl- und Räucherkammern pro Jahr zu umgerechnet gut einer Million Kilo Ware verarbeitet: Sie gehen als Frischfleisch in den Handel, als Würste - und natürlich als Stopfleber: Rund 2.500 Stück werden jeden Werktag zum Weitertransport auf gestoßenes Eis und Reispapier in Thermokisten gebettet, spätestens 48 Stunden nach der Schlachtung sind sie beim Kunden, vier Fünftel davon in Frankreich, der Rest im eigenen Land.
Pessots wunderbare Geschichten über jeden seiner Leckerbissen
In der Mittagspause laden die Pessots ihre Besucher gern in die gemütliche Firmenküche mit dem langen Holztisch zum Verkosten ein: Dann schneidet Antonello von der duftenden Gänse-Mortadella: "Meine Erfindung", sagt Alana, "angelehnt an die traditionelle Machart der Bologneser: 60 Prozent mageres Gänse-, 15 Prozent mageres Schweinefleisch und 25 Prozent gewürfelter Schweinespeck." Sie säbelt auch von den geräucherten Gänsekeulchen, den würzigen "prosciuttini", und enthüllt den gekochten Gänseschinken: Der entsteht aus einer völlig entbeinten Gans, die, mit dem klein gehackten Fleisch ihrer Schenkel gefüllt und von fachkundigen Frauenhänden zügig vernäht, vier Tage lang bei milden 20 Grad im Ofen gekocht und dann kurz angeräuchert wird. Pessot kann wunderbare Geschichten erzählen über jeden seiner Leckerbissen, aber auch über die antiken Ursprünge der Gänsekultur im Friaul. So waren die Gänsehüter und -mäster aus der Gegend vor über 2.000 Jahren schon so begehrt, dass sich die Machthaber in Rom ihren Erwerb auf dem Sklavenmarkt in Acquileia einiges kosten ließen. Noch heute sind die Ruinen der antiken Stadt unweit Palmanovas zu besichtigen. "Auch unsere Züchter in Ungarn haben eine jahrhundertealte Erfahrung und sind absolute Könner", darauf legt Pessot viel Wert, wenn kritische Fragen nach der "pervase" gestellt werden, dem Zwangsstopfen der Gänse mit einem Trichter, das in Italien, Frankreich und auch Deutschland als Tierquälerei gilt und deshalb verboten ist.
"Jolando de Colò"-Gänse, versichern die Pessots, leben 120 bis 180 Tage ihres Lebens im Freien und ernähren sich auf der grünen Wiese. Die letzten 20 Tage vor der Schlachtung mästen sie die Züchter alle acht Stunden mit gekochtem Mais: "Unsere Ungarn sind darauf spezialisiert: Sie können jeden Bissen mit bloßen Fingern im Hals der Gänse ertasten und spüren, wann ihr Magen gefüllt ist. Dann ist Schluss." Zum Beweis seiner Behauptung holt Sohn Bruno eine Stopfleber aus dem Kühlhaus, gut 600 Gramm schwer, makellos in ihrer hellen Latte-macchiato-Tönung. "Eine Gans, die leidet, hat eine dunkle, fleckige Leber", erklärt Antonello Pessot. "Unsere Gänse müssen demnach ganz schön zufrieden gelebt haben." Seine freundlichen blauen Augen, die können doch unmöglich lügen? Bruno hat die Leber da schon in fingerdicke Scheiben geschnitten, brät sie kurz an in zerlassener Butter, während der Vater einen "Picolit" seines Winzerfreundes Girolamo Dorigo aus dem Nachbarort Buttrio entkorkt: Die zarte Süße des kühlen Weißweins paart sich vollkommen mit dem zarten Schmelz des "fegato grasso". Dann stoßen Antonello, Alana und Bruno auf den heiligen Martin an, darauf, dass der Schutzheilige mit der Gans ihr Federvieh vor Epidemien jedweder Art bewahren möge. Die Pessots sind da sehr zuversichtlich.