Es ist schon erstaunlich, was in ihrer Favela und ihrem Land so passiert, findet Priscila Silva aus Sao Gonçalo, einer Vorstadt von Rio de Janeiro. Die ganze Welt fordert soziale Distanz, nur nicht ihr eigener Präsident Jair Bolsonaro. Der Gouverneur ruft dazu auf, zu Hause zu bleiben, aber für die Umsetzung der Maßnahme sorgen in ihrem Viertel kriminelle Banden. Der Präsident sagt, es handele sich bei Covid-19 um eine kleine Grippe, ein „Grippelein“, aber die Krankenhäuser in ihrer Stadt sind plötzlich überlastet, wie sie es gerade selber erleben musste.
„Das ganze Leben ist gerade sehr verwirrend“, sagt sie. „Und sehr schwer.“
Priscila Santos, 29, ist eine große, stämmige Frau, Mutter eines Sohnes, sie lebt mit ihrer Mutter und Nichte in einer Hütte der Favela Capote, 30 Kilometer entfernt von Rio de Janeiro. In ihrer Nachbarschaft wächst überall die Verzweiflung – wie auch bei ihr. „Es ist schon verrückt, wie sehr sich das Leben durch Corona verändert hat“, sagt sie dem stern am Telefon.

Sie meint gar nicht so sehr die Selbstisolation, die die Welt da draußen so sehr beschäftigt, denn in Brasilien hält sich nicht mal der eigene Präsident daran. Der schüttelt weiterhin begeistert Hände und spricht auf Demos, wo seine Anhänger die Rückkehr zur Militärdiktatur fordern.
Es sind auch nicht die leeren Straßen, denn viele arme Menschen in Sao Goncalo müssen weiterhin rausgehen, um etwas Essen und Geld aufzutreiben.
Ein einziger Monat ohne Einkünfte schlägt schon durch
Die größte Veränderung ist die pure Not. Priscila verkauft „Empadas“ auf der Straße, Teigtaschen, 50 Cent pro Stück, es ist ihr einziges Einkommen, 200 Euro macht sie im Monat. Informelle Arbeit, wie sie Millionen Brasilianer verrichten.
Aber nun sind weniger Kunden unterwegs und diese Kunden haben weniger Geld und dadurch wiederum ist ihr eigenes Einkommen um 50 Prozent gefallen, sie hat weniger Essen für ihre vierköpfige Familie. „Ich spare jetzt an Gemüse und Fleisch, Kleidung und Miete“, sagt die junge Mutter. „Ich habe alles reduziert auf Reis, schwarze Bohnen und Eier.“
Auf Brasiliens Grunddiät, nicht anders als vor 100 Jahren.
In den Armutsvierteln Brasiliens schlägt – anders als in Europa – ein einziger Monat ohne Einkünfte schon gewaltig durch.
Aber nicht nur die Einkünfte sind durch die Coronakrise betroffen, auch die Gesundheit. Priscila ist am Tag zuvor die Treppen herabgestürzt und hat sich das Bein verletzt, womöglich etwas gebrochen, wie sie glaubt, geht aber nicht ins Krankenhaus. „Ich war da, aber die Schlangen waren so lang und es sind viele Ältere darunter. Sie haben eine Schlange nur für Covid-19-Kranke.“
Die Pandemie hat auch Brasilien erreicht. Offiziell gibt es erst 40.000 Fälle und 2500 Tote, aber die Dunkelziffer dürfte viel höher sein. Schon melden die Intensivstationen vieler Krankenhäuser: „Wir sind voll.“ Und die gefährliche Zeit beginnt erst jetzt, wenn der Winter auf der Südhalbkugel naht.
Auch die öffentliche Ordnung ist in Coronazeiten eine andere. Früher waren die Gangs im Viertel nur mit dem Drogenhandel und Überfällen beschäftigt. Jetzt kümmern sie sich um die Ausgangssperre. „Sie haben mich vorgestern komisch angeschaut, als ich um 20 Uhr noch draußen auf der Straße war“, sagt Priscila.
Die Gangs mischen sich auch bei den Geschäften der Lebensmittelhändler und Drogerien in ihrem Viertel ein. Sie haben ihnen mitgeteilt, dass sie die Wucherpreise sofort zurücknehmen sollen. In den benachbarten Favelas Jardim Catarina und Salgueiro verschickten sie über soziale Medien Drohungen:
„Achtung. Wir informieren die Besitzer von Apotheken, Supermärkten, dass wir ab heute keine Wucherpreise in unserer Favela akzeptieren. Wir kämpfen für die Bewohner. Nehmt zur Kenntnis, dass wir keinen Missbrauch dulden.“
Priscila will sich zu dem Thema nicht äußern, Brasilianer tun das allgemein nicht, aus Angst. Aber es ist klar, dass die Gangs nicht nur edle Motive haben. Es geht ihnen vor allem um Macht und Gegenleistungen und ihre eigenen Geschäfte.
Auf der anderen Seite Rios wiederum, wo die „Milícia“ die Macht innehat – Banden ehemaliger Polizisten – fordern sie Händler auf, ihre Geschäfte wieder aufzumachen und sich nicht an die Vorgaben der Regierung oder der Drogenbanden zu halten. Der Grund: Sie wollen Schutzgelder abkassieren. Ihre Einnahmen sind durch Corona zurückgegangen.
Da müssen sich Händler nun entscheiden: Was wiegt mehr? Das Wort des Staates oder das der Milizen oder das der Drogenbanden?
„Das ist schon verrückt“, sagt Priscila.
Illegale Feiern mit 200 Teilnehmern
Auf ihrem Weg durch die Stadt erlebt sie so einiges. Vor dem Bürgeramt demonstrieren verzweifelte Händler für die Öffnung aller Geschäfte: „Handel öffnen jetzt!“, steht auf ihren Plakaten. Vor den Banken, die die Soforthilfe der Regierung (120 Euro pro Person) auszahlen, bilden sich ewig lange Schlangen, an Abstand halten ist nicht zu denken. Und in bestimmten Ecken finden weiterhin Feiern statt, genannt „pagode clandestino“, mit bis zu 200 Teilnehmern.
„Was soll man machen?“, sagt sie. „Wir müssen alle überleben.“ Sie findet es nicht schlecht, dass vor allem Männer aus den beengten Hütten rausgehen und Luft ablassen. In Rio ist die Rate häuslicher Gewalt um 50 Prozent gestiegen.
Sie selber ist in der Frage der rigiden Kontaktbeschränkungen hin- und hergerissen. „Ich mache mir natürlich Sorgen um meine eigenen Großeltern. Andererseits mussten wir Armen in Brasilien schon immer mit großen Krisen klarkommen, Gelbfieber, Zika, Umweltverseuchung, Arbeitslosigkeit, Hunger“, zählt Priscila auf. „Corona ist nicht gerade unsere schlimmste Bedrohung. Ich bin echt fertig, weil ich nicht weiß, wie ich die Familie durchkriege. Das ist meine größte Sorge.“
Sie hofft auf Unterstützung durch Kirchen und Organisationen, sie hofft auf die „cesta basica“, eine Kiste voller Grundnahrungsmittel und auf die versprochene Soforthilfe der Regierung.
In der Zwischenzeit wächst die Armut unter den Armen. Orte wie Sao Gonçalo leiden stärker als andere. Viele Bewohner pendeln sonst nach Rio und Niteroi – als Putzfrauen, Hausangestellte, Pförtner – aber die beiden Städte haben ihre Zugänge dichtgemacht, während die eigene Stadt sie noch offenhält.
Sie blickt bei den ganzen Richtlinien sowieso nicht mehr durch. Der Gouverneur des Staates beschließt den Shutdown, aber der Präsident ist dagegen. Die Gangs setzen die Maßnahmen der Politik durch, aber die „Milícia“ ist dagegen.
Nach wem soll sie sich also richten? Präsident, Gouverneur, Bürgermeister, Drogenkartell, Miliz? Sie überlegt kurz. „Ich höre nur auf mich selbst. Und meine Mutter.“
Sagt’s und muss wieder los, um ihre Teigtaschen auf der Straße zu verkaufen.