Als "wegweisende Philosophie aus Japan" oder "Japanisches Geheimnis für ein langes und gesundes Leben" betiteln diverse Autoren ihre Bücher über das japanische Schlagwort Ikigai. Andere Werke über das angeblich tief in der Tradition verwurzelte Konzept versprechen "mit japanischer Weisheit den Sinn des Lebens finden" oder einen Leitfaden, der "hilft, Erfüllung, Zufriedenheit und Achtsamkeit im Leben zu finden".
Die Begeisterung für angebliche Lebensweisheiten aus Japan hat in den vergangenen Jahren mehr und mehr Anhänger gefunden: Begriffe wie Shinrin Yoku ("Waldbaden"), Ikigai ("Sinn des Lebens") oder Kintsugi ("Goldflicken") sind in aller Munde – und prägen die Cover zahlreicher Lebensratgeber auf dem Buchmarkt. Christian Tagsold, Japanologe und Professor am Institut für Modernes Japan an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, spricht von einem wahnsinnigen Hype, hinter dem aber nur bedingt Substanz steckt.
Ikigai stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens
Die meisten "philosophisch-ostasiatisch aufgeladenen Konzepte" beschreiben laut Christian Tagsold banale und selbstverständliche Tatsachen, denen im Westen aber gerne eine historische Bedeutung zugeschrieben wird. "Das passiert oft bei japanischen Begriffen wie Ikigai. Dann wird die Geschichte meist nach hinten erweitert und geradezu esoterisch verklärt", berichtet der Japanologe. Aber: "die ganze kulturelle Aufladung ist in großen Teilen Quatsch", stellt der Experte klar. Ikigai sei das neueste Beispiel aus der Reihe dieser Phänomene.
Ikigai bedeutet auf Deutsch "Lebensqualität" oder "Sinn des Lebens". Das Ikigai-Konzept dreht sich darum, herauszufinden, was das Leben für den Einzelnen lebenswert macht. Allerdings habe Ikigai in Japan – im Gegensatz zu dem, was oft in Büchern behauptet werde – keine besonders lange Tradition.
Ikigai kam während der Verstädterung Japans in den 1960er und 1970er-Jahren auf. In einer Zeit, in der die Menschen eine Art Entfremdung erlebt haben: "Man arbeitet nicht mehr in der Landwirtschaft, wo man das, wofür man arbeitet, auch konsumiert. Sondern man ist als Angestellter am Fließband nur noch ein Teil des großen Ganzen", erläutert der Japanologe. Durch geregelte Arbeitszeiten stand mehr Freizeit zur Verfügung, gleichzeitig wurden die Menschen immer älter. Infolgedessen neigte man eher dazu, sich zu fragen, worin der Sinn des Lebens liege.
Daraufhin habe sich in Japan erstmals ein Buchmarkt mit Lebensratgebern zum Thema Ikigai entwickelt, erzählt Tagsold. "Einem Begriff, der vorher kaum in Gebrauch war", betont er. Bereits damals seien die Bücher über Ikigai sehr erfolgreich gewesen, doch nach einer Weile habe die Begeisterung abgeebbt. Erst seitdem japanische Begriffe "im Westen ausgeschlachtet und vermarktet werden, ist irgendwer wieder auf Ikigai gestoßen und hat es zu einem traditionellen Grundbegriff japanischer Philosophie erklärt", so der Experte.
Ikigai steht schlicht für Selbstreflexion
Die zahlreichen Ratgeber-Bücher und Webseiten, die sich mit Ikigai beschäftigen, wollen dem Leser den Weg zu dessen persönlichem Ikigai aufzeigen. Untermalt werden die Texte von einer Grafik, bestehend aus vier Kreisen. Diese sollen für jeweils einen Lebensbereich stehen, namentlich "Was du liebst", "Worin du gut bist", "Womit du Geld verdienen kannst" und "Was die Welt von dir braucht". Aus der Schnittmenge je zwei dieser Fragen soll der Mensch jeweils seine persönliche Mission, seinen Beruf, seine Berufung und seine Passion ablesen können. Stehen diese vier Elemente in einem balancierten Verhältnis zueinander, soll der Mensch sein Ikigai gefunden haben.

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Dieses äußere sich laut "Psychology Today" als "subjektives Wohlbefinden, inklusive des Empfinden eines Lebenssinns und der Freude am Leben". Wahlweise wird Ikigai in der Berichterstattung als "Formel für die Lebenszufriedenheit" (BBC), "Form der Selbsterfahrung" ("Focus") oder dem "Schlüssel zu einem bedeutungsvollen Leben" ("Guardian") benannt. Dan Buettner, ein Autor und Unternehmer, der sich auf das Verständnis von Langlebigkeit spezialisiert hat, meint im Gespräch mit dem "Forbes Magazine", das Wissen um sein persönliches Ikigai trage nicht nur zu einem erfüllten, sondern auch zu einem langen Leben bei.
Am Ende gehe es bei der Idee hinter Ikigai jedoch schlicht um Selbstreflexion. Das Ikigai-Diagramm, das vermutlich ebenfalls aus den 1960er oder 1970er-Jahren stammt, erwecke den Anschein, ein vermeintlich komplexes Problem handhabbar zu machen, doch schlussendlich liegen die dargestellten Lebensfragen nach Auffassung des Experten ohnehin auf der Hand. Es liege in der Natur des Menschen, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Dieser erschließe sich aber weder mittels einer bunten Visualisierung noch durch Ratgeber-Literatur, die sich unter dem Label eines japanischen Wortes vermarktet. "Die Bücher über Ikigai sind unklar und schwammig, dass die Aussagekraft gegen null geht", resümiert der Japanologe.
Waldbaden ist zwar gesundheitsfördernd, aber keine "Säule der japanischen Kultur"
Shinrin Yoku hat eine ähnliche (Erfolgs-)Geschichte wie Ikigai durchlaufen. Ein Konzept, das auf Deutsch als "Waldbaden" bekannt geworden ist. Was auf Buch-Titeln als "Verjüngende Praxis", "Japanische Therapie für innere Ruhe" oder jahrzehntealte "Säule der japanischen Kultur" gelobt wird, ist –weniger opulent ausgedrückt – nichts anderes als ein bewusster Waldspaziergang, bei dem man das Handy zuhause lassen und die Natur mit allen Sinnen wahrnehmen soll. Shinrin Yoku entspringt einer Marketing-Kampagne des Volksministeriums aus dem Jahr 1982, erzählt Tagsold. Im Zuge der Verstädterung hatten die ländlichen Regionen Japans mit Abwanderung und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Deshalb habe man mit neuen Konzepten versucht, die Menschen wieder in die Peripherie zu locken. Es kam die Idee auf, die Wälder, die in Japan traditionell sehr dicht und nicht ganz ungefährlich sind, so sicher zu machen, dass man dort bedenkenlos spazieren gehen könne.

Gleichzeitig stieß man Forschungen an, die den gesundheitsfördernden Effekt von Waldspaziergängen belegen sollen. "Eigentlich eine banale Tatsache, aber man kann es tatsächlich wissenschaftlich beweisen", sagt der Professor. Die Forschung hat dem "Waldbad" einen heilenden Effekt auf Körper und Seele attestiert, die immer wieder in Medienberichten aufgezählt werden. Aufenthalte im Grünen "könnten das Immunsystem stärken, den Blutdruck und den Schlaf verbessern", berichten etwa der "Spiegel" oder der britische "Guardian". Dass die Vorteile eines achtsamen Waldspaziergangs ausgerechnet unter dem japanischen Stichwort so viel Bekanntheit erlangt haben, liege nach Aussage des Experten schlicht an der geschickten Werbung des Ministeriums. Um eine "historische Praxis", wie die BBC das Phänomen nennt, handele es sich allerdings nicht.
Kintsugi: Japanische Reparatur-Methode wird auf Seelenleben übertragen
Ein weiteres Schlagwort, unter dem sich auf TikTok und Instagram mehr und mehr Beiträge sammeln, ist Kintsugi, eine Form der Keramik-Reparatur, die wörtlich mit "Goldflicken" übersetzt wird. Diese hat ihren Ursprung laut Tagsold in den höfischen Kreisen Japans. "Zerbrochene Teetassen oder Teller hat man nicht weggeworfen, sondern mit Gold zusammenklebt, also sichtbar repariert", erklärt der Japanologe. Zwar handelt es sich um ein traditionelles Handwerk, allerdings auch um eine aristokratische Praxis, die auf eine kleine Schicht von Menschen beschränkt war. Nur die wohlhabendsten Menschen des Landes konnten sich den teuren "Klebstoff", einen speziellen Lack, in den feinstes Goldpulver eingearbeitet ist, leisten. Im Westen ist die Reparaturmethode unter anderem zu einer "alten Kunst, Unvollkommenheit anzunehmen" (BBC) erhöht worden.
Aus Kintsugi, einer "Handlungsweise, die auf uns natürlich sehr schön wirkt", habe man "eine besondere Beziehung zu Dingen abgeleitet", die in dieser Form in Japan nicht existiert, sagt Tagsold. Nicht nur gibt es jede Menge Kintsugi-Reparatur-Sets auf dem Markt, sondern auch Bücher, die das Handwerk auf die menschliche Psyche übertragen. Die Autoren schreiben über "Die Kunst, schwierige Zeiten in Gold zu verwandeln", "Die Kunst, unsere Wunden zu heilen" und darüber, "Wie uns Bruchstellen im Leben stark machen". Kein Wunder, dass Kintsugi als "japanische Form der Resilienz" oder "Teil einer umfassenderen Philosophie, die Schönheit menschlicher Fehler anzunehmen" ("Süddeutsche Zeitung") gepriesen wird.
Japan und der Westen – eine Gegenüberstellung, die Stereotype bedient
Die Vorliebe des Westens für vermeintliche Lebensweisheiten aus Ostasien bezeichnet der Experte als ein Problem der Moderne. "Die Dinge verlieren ihre Selbstverständlichkeit, gleichzeitig möchte man aber klare Ansagen und Lösungen haben", erklärt der Experte. Da zudem die Religion als richtungsweisende Praxis an Bedeutung verloren habe, richte der Mensch seinen Blick bei der Suche nach dem Lebenssinn in die Ferne. Das Phänomen sei nicht neu, Japan übe bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Faszination auf den Westen aus. Als erstes fernöstliches Konzept verbreitete sich der Zen-Buddhismus in den 1920er und 1930er-Jahren im Westen. Heute wird der Begriff vor allem in Verbindung mit der Achtsamkeitsbewegung genannt. Aber auch in diesem Fall habe Zen hierzulande seine ursprüngliche Bedeutung verloren.
Japan kurz nach der Öffnung: Vintage-Fotografien zeigen das ursprüngliche Land

Neben dem Buchmarkt befeuern auch die sogenannten Japaner-Diskurse die Verklärung vermeintlicher Philosophie-Konzepte. Dabei handelt sich um "Selbstvergewisserungsdiskurse, die Japanern den Japaner erklären sollen", erläutert Tagsold. Diese Abhandlungen, die durch japanische Medien kursieren, "funktionieren immer auf einer Gegenüberstellung von West und Japan", so der Wissenschaftler. Es gehe um Stereotypen und ein klassisches Schwarz-Weiß-Denken: "Der Westen ist individualistisch, der Japaner ein Gruppenmensch", zitiert der Experte ein Beispiel. Obwohl diesen Erklärungen jeglicher Bezug zur Realität fehle, seien die Japaner-Diskurse sehr erfolgreich. Konzepte wie Ikigai funktionieren nach demselben Muster: "Man hat etwas, das dem Westen angeblich verloren gegangen ist – ein spezifischer Bezug zur Natur oder den Blick für Kleinigkeiten", sagt Tagsold.
Esoterische Verklärung bestärkt die eigene Identität
Das Ursprungsland der romantisierten Ideen trägt also durchaus seinen Teil dazu bei, dass die simplen Ideen, die hinter den populären Schlagwörtern stehen, im Westen in eine esoterische Richtung verzerrt werden. "Weil es hilft, die eigene Identität zu bestätigen", sagt der Japanologe. Auch die Tourismus-Branche mache sich angeblich philosophischen Ideen wie Ikigai, Kintsugi und Shintin Yoku zunutze, "um die eigene Nation zu einer Marke auszubauen".
Zudem gebe es auch viele einheimische Autoren, die mit den Lebensratgebern auf den Buchmarkt strömen. Christian Tagsold sieht sich selbst in der Gegenposition, der Rolle des "Myth Buster". Dennoch sind die Grundideen, die hinter den beliebten japanischen Begriffen stehen, im Grunde alle sinnvoll: Selbstreflexion, entschleunigte Waldspaziergänge und Kaputtes zu reparieren, statt es wegzuwerfen. Man kann diesen Praktiken trotzdem als Leitlinien und Ideen für ein bewussteres Leben nutzen – ohne sie allzu sehr zu überhöhen.
Quellen: BBC (I), BBC (II), BBC (III), "Der Spiegel", "Focus", "Forbes Magazine", "Psychology Today", "The Guardian" (I), "The Guardian" (II), "Süddeutsche Zeitung"