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Jagoda Marinić Selber Pascha!

Illustration Kolumne Jagoda Marinic
Der "Pascha"-Spruch von Friedrich Merz bringt unsere Kolumnistin auf die Palme
© Illustration: Lennart Gäbel / Foto:Gaby Gerster
Unsere Kolumnistin wollte sich nicht mehr über billige Ressentiments gegen Eingewanderte aufregen, doch konservative Stimmungsmacher lassen ihr keine Wahl. Jetzt böllert sie zurück.

Manche Debatten in diesem Land sind wie ein Bugatti, der an der Ampel steht und dessen protziger Fahrer alle drei Sekunden im Leerlauf aufs Gaspedal drückt. Jeder weiß, nichts geht nach vorn, aber dieser Kerl da macht laut auf sich aufmerksam.

Dazu zählt nun auch die Böllerdebatte über die vereinzelten Ausschreitungen in der Silvesternacht. Ich sage nicht umsonst Bugatti. Solche Aufheuldebatten haben viele Leute reich, bekannt oder einflussreich gemacht. Parteipolitiker sammeln so Wählerstimmen, Promis schreiben im Jetzt-aber-Klartext-Modus Bücher wie etwa einst Sarrazin mit "Deutschland schafft sich ab."

Deutschland debattiert in immergleichen Schleifen

Ich wollte mich an dieser erneuten Debatte nicht beteiligen, weil es eigentlich keine Möglichkeit gibt, wie diese immergleichen Schleifen Deutschland nach vorne bringen könnte. Das Drehbuch läuft immer gleich ab, nach der ersten Empörungsrunde entlarvt man die meisten der Aufreger als Fake News.

Es ist, als warteten viele auf solche Gelegenheiten, zumal die Silvesternacht seit 2015 leicht für Ressentiment-Kampagnen zu missbrauchen ist. Da wird "Böllern für die Freiheit" gerne geopfert, um über die Bedrohung durch aggressive Einwanderer zu reden. Trotzdem lohnt es sich, zu fragen, weshalb so eine Debatte gleich zu Beginn des Jahres aus dem Ruder läuft. Weshalb lassen sich die Knöpfe zum Thema "Einwanderungsland" so leicht drücken?

Jahrzehnte ausländerfeindlicher Rhetorik

Die Jahrzehnte ausländerfeindlicher Rhetorik in der Bundesrepublik haben ihre Spuren hinterlassen. Die alten Feindbilder sind in den Köpfen vieler Bundesbürger fest verankert, es braucht nur wenige Striche, um das alte Bild von den "bösen Fremden" neu zu zeichnen, die das Land angeblich kaputt machen.

Das Ganze ist so denkfaul wie einfach, so bequem wie unambitioniert – und das in einer Zeit, in der die Komplexität der meisten Probleme ohnehin viele Menschen überfordert. Stattdessen macht man mit alten Denkreflexen Klicks und schlägt politisch Kapital.

Nur wenige Stunden nach Beginn der Diskussion fielen Begriffe wie "westasiatischer Phänotyp" und "Passdeutsche". Einige Politiker löschten ihre überzogenen Tweets zwar schnell wieder, die rhetorischen Figuren aber standen im Raum. Man solle bitte die Vornamen der Täter prüfen! Wie lange haben sie denn schon den deutschen Pass? Als gäbe es den undeutschen Deutschen, den Eingebürgerten eben. Zurecht wehrten sich eingebürgerte Politiker wie Cem Özdemir und Wissenschaftler wie Carlo Masala, in Talkshows sowie auf Twitter.

Deutsche Gesetzgebung weiter als die Debatten

Die deutsche Gesetzgebung ist längst weiter, als es die deutschen Debatten sind. Das Blutrecht ist passé. Es kommt mir oft vor wie Helmut Kohls langer Schatten, der sich auch über 16 Jahre Merkel legt, wenn Teile der CDU aus lauter Einfallslosigkeit solche Ressentiments schüren, um auf Stimmenfang zu gehen. Sie machen bewusst "Fremde" fremder und gefährden durch das Aufgreifen von Begriffen wie "Passdeutsche" die Integrationserfolge der letzten Jahrzehnte.

In der CDU reagieren viele angefasst, wenn man ihre neue Diskurslinien mit denen der Republikaner in den USA vergleicht. Doch kaum bietet Markus Lanz einem Friedrich Merz den heißen Stuhl an, redet dieser wie ein Zeitarbeiter für Rechte: Da ist plötzlich von kleinen Paschas in der Schule die Rede, die von ihren herrischen Vätern geschützt würden, sobald die Lehrerinnen die Söhne kritisieren.

Friedrich Merz und die Paschas

Redet Merz so despektierlich auch über erfolgreiche Businessmänner, die sich vor Lehrerinnen aufbäumen, weil sie die Leistung ihres Kindes nach dem Status der Eltern bewertet wissen wollen, ganz gleich, was der Sohnemann leistet? Frauenrechte zählen für Merz wohl vor allem dann, wenn sie von Einwanderern missachtet werden. In der eigenen Partei aber scheint die männliche Dominanz kein drängendes Problem zu sein. Auf Twitter wurde ich bisher von wenigen Politikern so unangenehm angegangen wie von Männern aus der Jungen Union. Um bei Merz zu bleiben: Was machen wir mit diesen Paschas, wenn sie politisch erwachsen werden?

Jagoda Marinić
© Gaby Gerster

Jagoda Marinić

Die Schriftstellerin und Politologin Jagoda Marinić („Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“) schreibt alle zwei Wochen – im Wechsel mit Micky Beisenherz – im stern.

Ich schreibe nun also eine weitere Kolumne zu diesem Thema, aber nicht, um eine anti-rassistische Position einzunehmen, weil auch diese nur ein Reflex wäre, der von der anderen Seite missbraucht würde, um noch mehr Vorurteile in den Umlauf zu bekommen. Ich schreibe, weil wir in Deutschland lernen könnten, anders zu reden, weil wir als ein in weiten Teilen erfolgreiches Einwanderungsland eine bessere Sprache verdient haben. Und weil ich daran glaube, dass die Mehrheit in diesem Land viele Probleme tagtäglich löst, ohne dabei Gruppen zu stigmatisieren. Es müsste über so vieles geredet werden: über die demografischen Zahlen, die soziale Schere, eine pandemiefrustrierte Jugend in Problemvierteln, über eine gemeinsame Erinnerungs- und Zukunftskultur, über verbesserte Bildungschancen und auch darüber, weshalb die deutsche Sprache und Kultur politisch meist vernachlässigt werden, bei solchen Debatten aber herhalten müssen. Wie lernt man es, sich von solchen Bugatti-Debatten gelangweilt abzuwenden? Wie lernt man, all jenen zu misstrauen, die aufs Gaspedal drücken, noch bevor die Fakten feststehen? Weiß man doch, sie warten nur auf so eine Gelegenheit.

Auch Nachkommen von Einwanderern wählen

Wer meint, so seien Wahlen zu gewinnen, hat eine wichtige Rechnung nicht gemacht: Viele Nachfahren von Einwanderern, die inzwischen gut gebildet und integriert sind, kennen diese Debatten noch von der Opferseite. Wir waren die Letzten, die als Sündenböcke dienten, die einige deutsche Politiker und Bürger wohl so sehr zu brauchen scheinen.

Gegenverkehr: Blome und Augstein streiten über Silvester-Angriffe

Diese Fortsetzungslogik zeigt sich sprachlich etwa daran, dass einige Behörden den Begriff "südländisch" einfach durch "westasiatischer Phänotyp" ersetzt haben. So wie das Wort "Ausländer" durch "Menschen mit Migrationsgeschichte" oder "Migrant" ersetzt wurde. Seit Jahrzehnten funktionieren deutsche Einwanderungsdebatten nach dem gleichen Prinzip, nur Begriffe und Gruppen werden ausgetauscht, sobald neue Sündenböcke da sind. Der Traum vieler Rechtsextremer ist es, die neuen und die alten Einwanderer in einem Aufwasch auszubürgern. Wer ihnen rhetorisch hilft, schadet der gesamten Gesellschaft.

Wir waren die Ausländer von gestern

Viele etablierte Kinder von Einwanderern, die keine Angst mehr haben, als Fremde herhalten zu müssen, und die das Stimmenfangspiel durchschauen, solidarisieren sich mit den nächsten diskriminierten Gruppen, weil wir dieses Spiel kennen: Wir waren die Ausländer von gestern. Viele stellen sich medienwirksam dagegen und werden bei Wahlen ihr Kreuz nicht dort setzen, wo heute andere Menschen pauschal abgewertet werden. Das heißt nicht, dass man nicht auch über gruppenspezifische Probleme sprechen kann, sobald sie gut erforscht sind und wenn man dem Sprecher den Lösungswillen anmerkt.

Es heißt, dass man nicht duldet, wenn durch abwertende Sprache die nächste Gruppe ausgegrenzt wird. Man duldet es nicht, weil man diesen Kreislauf satthat und weil es nichts Schlechteres für die Integration gibt, als jemanden zum "Anderen" zu erklären. "Passdeutsche" etwa ist ein Begriff, der die rechte Fantasie nährt, man könnte manchen den Pass wieder entziehen. Wer Demokrat ist, will solche Fantasien nicht füttern.

Debatten stärken den rechten Rand

Nicht die Mitte wird durch solche Debatten gestärkt, sondern der rechte Rand. Das war schon in den 1990ern so, als die heftigen Diskussionen um das Asylrecht der bürgerliche Begleitsound zu den Brandanschlägen auf die Asylbewerberheime waren. Obwohl ich keine Nützlichkeitsargumente anführen möchte, um die Würde von Menschen zu verteidigen, sollten gerade die CDU und FDP daran denken, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland ein gesellschaftliches Klima braucht, in dem Fach und Führungskräfte sich sicher fühlen.

Für das alles gibt es Auswege: Man müsste endlich davon ablassen, nach Sündenböcken zu suchen, und anfangen, neue Ideen für das Einwanderungsland Deutschland zu entwickeln. Man müsste in einer Sprache sprechen und eine Politik machen, die der Realität gerecht werden: Deutschland ist ein Einwanderungsland, in dem vieles – trotz alter Wunden – sehr gut funktioniert. Vom Gelingen wird zu wenig erzählt, weshalb es schwierig ist, Hoffnung zu wecken. Stattdessen wird Angst geschürt. Doch viele haben auch die guten Geschichten erlebt.

Nur wer die Realität des Gelingens in diesem Einwanderungsland anerkennt, kann unaufgeregt an den Schwachstellen arbeiten. Angesichts der großen sozialen und klimapolitischen Fragen unserer Zeit wäre das fast ein Kinderspiel – es bräuchte nur den politischen Willen und ein paar neue Ideen.

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