Abdelkader Rafoud steht in der Offenbacher Fußgängerzone, die Menschen laufen um ihn herum. Die meisten Frauen tragen Kopftuch, Männer haben dunkle Haare, man hört viele verschiedene Sprachen. "Deutsch aussehende Menschen sehen Sie hier wenig", sagt Rafoud (66). "Das ist das Offenbacher Stadtbild. Es gibt viele Migranten. Aber ist das negativ? Ich sehe das als Bereicherung."
"Das Stadtbild" ist dank Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) zum Schlagwort einer neuen Migrationsdebatte geworden. Wo kann man dem Thema näher kommen als hier? Offenbach hat laut Statistischem Landesamt mit 39,8 Prozent den höchsten Ausländeranteil in ganz Hessen. Nach Angaben der Stadt haben 66,5 Prozent aller Offenbacher einen Migrationshintergrund.
Rafoud stammt aus Marokko. Sein Vater kam 1960 als Gastarbeiter nach Offenbach, 1972 holte er seine Familie nach. Heute sitzt der Sohn als Stadtverordneter für die SPD im Rathaus, ist Vorsitzender des Ausländerbeirats und hat als hauptberuflicher Migrationsberater Einblick in die Volksseele Offenbachs. Wie kamen die Äußerungen von Merz an in der Community?
Was sagen die Töchter?
"Die Menschen haben das nicht verstanden", sagt Rafoud. Wieso sollten sie ein Problem im Stadtbild sein, wenn sie doch hier leben, arbeiten und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten? Man habe sich in den ersten Tagen nicht erklären können, was Merz gemeint habe, sagt Rafoud. Als der Kanzler dann nachschob, "Fragen Sie mal Ihre Töchter", habe er genau das getan.
Er fragte seine drei erwachsenen Töchter und bekam zur Antwort, sie wüssten es auch nicht. Nachts gebe es Ecken, um die man besser einen Bogen mache, weil da Betrunkene rumlungern. Da gehe man dann über die beleuchtete Hauptstraße. Aber was das mit Ausländern zu tun habe?
Was die "Integrationsmaschine" bremst
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In Offenbach gelinge Integration gut, sogar sehr gut, findet Rafoud, "weil wir uns Mühe geben. Offenbach ist eine Integrationsmaschine." Die Stadt hatte im Sommer Zahlen aus der polizeilichen Kriminalitätsstatistik vorgelegt, die in mehreren Bereichen einen Rückgang der Taten zeigt. Nach einer Mitteilung führt die Stadt nach dieser Statistik sogar die Liste der sichersten Großstädte in Hessen an.
Als Gründe nennt das zuständige Dezernat: Präventionsarbeit zur Vermeidung von Gewalt in Schulen und in der Jugendarbeit, eine personell aufgestockte Stadtpolizei, die rund um die Uhr sieben Tage die Woche im Einsatz sei, Videoüberwachung an früheren Brennpunkten, runde Tische in den Stadtteilen und ein Haus des Jugendrechts.
Ein Multikulti-Paradies ist Offenbach nicht. "Natürlich gibt es Herausforderungen", sagt Rafoud. Größtes Problem in Offenbach ist seiner Einschätzung nach die Wohnungsnot. "Menschen mit wenig Geld finden keine Wohnung. Das sorgt für Unzufriedenheit." Wenn Merz etwas für Integration tun wolle, müsse er dafür sorgen, dass mehr Wohnraum entsteht.
Rafoud selbst hat alle Phasen von Migration miterlebt seit 1972 - und damit auch den Wandel im Stadtbild. Mit jeder Gruppe, die kam, veränderte sich die Stadt. Aber war es zum Schlechteren?
In der ersten Welle kamen vor allem Südeuropäer. Sein Vater sei der erste Marokkaner in Offenbach gewesen. Dann holten viele ihre Familien nach. Mit jeder Welle wandelte sich das Stadtbild. Der Wandel zeigte sich auch in Worten: aus den temporär willkommenen "Gastarbeitern" wurden "ausländische Mitbürger". Das "Mit" machte Rafoud Deutschland zur zweiten Heimat.
In der letzten Welle kamen viele Flüchtlinge. Rafoud sagt: "Danke", aber er sagt auch: "Deutschland war darauf nicht vorbereitet." Wer für Arbeit komme, zum Studieren, wer in Not sei, sollte willkommen sein, findet er. Deutschland sei auf Zuwanderung angewiesen. Wer ohne Papiere komme, müsse kontrolliert werden. Und wer sich etwas zuschulden kommen lasse, für den müsse das Gesetz gelten.
Später präzisierte Merz, er habe illegale Migranten gemeint, die nicht arbeiten und die sich nicht an die Regeln halten. "Da bin ich mit ihm d'accord", sagt Rafoud. "Wir wollen hier keine Menschen, die Unfrieden stiften." Aber der Kanzler hätte das konkret ansprechen können, sagt der SPD-Mann. "Und er hätte auch über das sprechen können, was funktioniert."
CDU-Mann "hätte das anders formuliert"
Was sagt eigentlich Merz' eigene Partei, die Offenbacher CDU, zum Stadtbild? Kreisvorsitzender Andreas Bruszynski findet die Worte des Kanzlers "unglücklich", wie er zugibt. "Ich hätte das anders formuliert."
"Offenbach ist eine bunte Stadt, in der Integration tatsächlich relativ gut gelingt", sagt der Anwalt. "In unserem Stadtbild kann man sehen, dass wir viele Migranten haben. Aber Sie können natürlich nicht sagen, ob einer Arzt ist oder sich illegal in unserer Stadt aufhält."
Am Stadtbild Offenbachs stört Bruszynski durchaus das eine oder andere, zum Beispiel der viele Müll. "Da fehlt es in der Bevölkerung an Sensibilität. Aber da nehme ich keine Bevölkerungsgruppe aus." Und die illegale Migration? "Die stört auch viele Migranten, die schon lange legal hier leben auch."