Wer an Bayer Leverkusen denkt, der hat Xabi Alonso vor Augen. Diesen Typen, dem momentan scheinbar alles zu gelingen scheint, locker-elegant. Und wenn man dann an den FC Bayern denkt und an dessen Trainer Thomas Tuchel – dann, tja. Der, der sich so abmüht und irgendwie verkrampft gegen alle Widerstände ankämpft. Aber es kommt einem noch ein dritter Chefcoach in den Sinn, der die schicksalhafte Linie zwischen den Kontrahenten des Bundesliga-Topspiels an diesem Samstag bildet: Julian Nagelsmann, der Bundestrainer.
Im schwarzen Rollkragenpulli und mit düsterer Miene hatte Nagelsmann am 19. März vergangenen Jahres in der BayArena seine letzte Partie als Bayern-Trainer geleitet, ohne dies zu ahnen. Vier Tage und einen – angeblich genehmigten – Kurzurlaub samt Freundin in den österreichischen Bergen später war der Coach entlassen. Das 1:2 in Leverkusen, damals bereits trainiert von Alonso, war der berühmte letzte Tropfen, der den Unmut über Nagelsmann zum Überkochen brachte. Weil Tuchel, über den die Bayern in Person des ehemaligen Vorstandsbosses Karl-Heinz Rummenigge bereits einmal intensiv nachgedacht hatten, vor knapp elf Monaten ohne Job und auf dem Sprung zu Tottenham Hotspur war, machten die Münchner Chefs kurzen Prozess. Nagelsmann raus, Tuchel über Nacht rein. Gelegenheit macht gierig.
"Hey Jungs, ich bin einer von euch", soll das wohl heißen. Aber ist Thomas Tuchel das?
Diesen Samstag ist der Schauplatz, auf den die Fußball-Fans gebannt blicken, erneut die Leverkusener Heimstätte. An der Seitenlinie begegnen sich ein Mann, der Kaschmir-Pullis liebt und auch im kältesten deutschen Winter einen leichten Mantel trägt, der an Ottmar Hitzfelds Outfits erinnert. Doch während der legendäre frühere Bayern- und Dortmund-Trainer oft sichtbar fror, läuft der Baske Alonso während der Spiele so heiß, dass er den Mantel auch mal ablegt. Auf der anderen Seite Tuchel, der stets im Trainingsoutfit seine Anweisungen gibt, immer mit einem Käppi tief ins Gesicht gezogen, dazu ein dicker Schal. Die Arbeitskleidung soll die Verbindung zur Mannschaft symbolisieren: Hey Jungs, ich bin einer von euch! Aber ist Tuchel das? Und beweist der elegante Herr Alonso im Smart-Casual-Style nicht genau das Gegenteil?
Der 42-Jährige hat im Verein eine neue Euphorie entfacht, kommt entspannt rüber, kein Wunder: Noch hat Leverkusen keines seiner 30 Saisonspiele verloren, noch musste Alonso keine Krisen moderieren. Diese Reifeprüfung steht noch aus. Doch negative Gedanken sind weit weg rund ums Bayer-Kreuz. Nach dem furiosen 3:2 im Viertelfinale des DFB-Pokals gegen den VfB Stuttgart winkt der erste Titel seit 31 Jahren (1993 gewann man den Cup gegen die Hertha Amateure). Oder wird es gleich das Double? "Schritt für Schritt", mit langer Betonung auf dem "i", wiederholt Alonso gebetsmühlenartig seine Vorgehensweise. "Die Spieler haben den Wunsch, etwas zu gewinnen", sagt er, "und der Pokal ist der kürzeste Weg." Zwei Siege würden reichen. Ein Sieg gegen Bayern könnte den Vorsprung in der Liga auf fünf Punkte anwachsen lassen. Dann wird höchstens das Träumen von der Schale zur größten Gefahr. Aber man hat ja Senor Alonso, der nur beim Torjubel abhebt. Abgeklärt meinte er vor dem Spiel der Spiele trocken: "Bayern ist der härteste Gegner, sie sind die beste Mannschaft in Deutschland. Bayerns DNA ist es, zu gewinnen."
In München dagegen ist die ureigene Hybris mal Hindernis, mal Energizer. Denn virtuell fühlen sich die Bayern bereits als Tabellenführer, mit einem Punkt Vorsprung. Der eingeplante Dreier beim Dominator dieser Saison ist eine bayerische Selbstverständlichkeit und Teil des "Mia-san-mia"-Verständnisses. Zweifel? Kommen nur von außen. Sagt man (sich) an der Säbener Straße. Favorit sei der Rekordmeister diesmal nicht, meinte Jan-Christian Dreesen, Bayerns Vorstandschef. Eine schöne, kleine Finte, rein zweckmäßig. Schließlich fühle man sich in der Verfolgerrolle "ganz wohl". Am Ende aber werde "natürlich" der FC Bayern Meister. Der Verein habe "über viele, viele Jahre bewiesen, dass wir unter Druck zu Höchstleistungen imstande sind", betonte Präsident Herbert Hainer.
Die Kritik an Tuchel sei zu hart, sagt Klose
Nur einer mag nicht so recht einschwingen auf die übliche, bayerischen Rhetorik vor Spitzenspielen: Trainer Tuchel, Er ist zwar gebürtiger Bayer, stammt aus Krumbach in Schwaben, Landkreis Günzburg. Das "Mia-san-mia"-Gen hat der 50-Jährige noch nicht so recht intus, seit er vor knapp elf Monaten in München als Chefcoach übernahm. Immerhin zeigte er sich am Freitagmittag an der Säbener Straße kämpferisch, sprach von einem "außergewöhnlichen Spiel" und "einer außergewöhnlichen Möglichkeit, einem besonderen Moment, die Karten auf den Tisch zu legen". Und fügte hinzu: "Ich hätte beinahe gesagt: Hosen runter!" Er wiederholte sich mehrmals, damit die Botschaft überall verfängt. "Am Samstag um 18.30 Uhr zählt es. Leverkusen will auch ein Ausrufezeichen setzen. Es geht darum, dass wir es mehr wollen. Wir fahren nach Leverkusen, um zu gewinnen – und nichts Anderes. Wir wollen den Spieß umdrehen." Gegenüber seinen Spielern soll beim Showdown gelten: Weniger ist mehr. Perfektionist Tuchel, dem Spieler hinter vorgehaltener Hand vorwerfen, er würde sie mit taktischem Input überfrachten, will sich inhaltlich zurückhalten. Er sprach: "Wir dürfen nicht in unserem Wissen gefangen bleiben, müssen ins Tun kommen."
Die Münchner haben sieben Punkte mehr als vorige Saison zu diesem Zeitpunkt geholt und dennoch gibt es Kritik an Tuchel, vor allem an der Spielweise seiner Mannschaft. Laut DFB-Rekordnationalspieler Lothar Matthäus seien "die Ergebnisse gut, aber es mangelt an der Attraktivität des Fußballs, die man von dieser stark besetzten Bayern-Mannschaft erwarten kann, auch trotz der zahlreichen Verletzungsausfälle". Bayern habe sich, so Matthäus weiter zu "Bild", in der Ära Tuchel "fußballerisch nicht so weiterentwickelt, wie es sich viele Fans erwartet haben. Seine Forderungen nach neuen Spielern, seine manchmal zu ehrlichen und kritischen öffentlichen Aussagen vor und nach Spielen, seine empfindlichen Reaktionen sogar bei sachlicher Kritik – auch so was verunsichert den einen oder anderen Spieler." Was natürlich keiner öffentlich zugeben würde. Unterstützung erhält der tatsächlich stets meinungsstarke Tuchel von WM-Rekordtorschütze Miroslav Klose. "Die Kritik an ihm ist mir zu hart. Ich finde, dass er der richtige Trainer für den FC Bayern ist. Es braucht auch mal Geduld, die erste Lösung kann nicht immer sein, den Trainer zu wechseln", sagte Klose der "Sport Bild". Schön, wenn man noch Fürsprecher hat.

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Seit dem sechsten Spieltag steht Leverkusen ganz oben, die Serienmeister aus München dagegen nur ein einziges Mal, nach dem fünften Spieltag. Zu wenig Gipfel-Sonne für die Bayern. Beiderseits beeindruckend sind diese Fakten: Mit 52 Zählern (Bayer hat damit bereits jetzt zwei Punkte mehr als am Ende der Vorsaison) und 50 Zählern (Bayern) stellen die Dominatoren das beste Duo der Bundesliga-Historie. Nie zuvor hatten nach 20 Spieltagen zwei Mannschaften mindestens 50 Punkte auf dem Konto. Das Duell wird nicht mehr und nicht weniger als: die Vorentscheidung im Kampf um die Schale. Und was, wenn Tuchel verliert?
Verlieren sollte Thomas Tuchel besser nicht
Darf er nicht mehr so oft. Drei Blackouts widerfuhren den Bayern unter ihm schon in dieser Saison. Einer im November, das 1:2 im DFB-Pokal bei Drittligist 1. FC Saarbrücken. Einer im Dezember, das 1:5 bei Eintracht Frankfurt. Und einer im Januar, das völlig überraschende 0:1 gegen Werder Bremen. Die Konstanz fehlt, der Spektakel-Faktor sowieso. Rein tabellarisch wäre eine Pleite bei Bayer ein Statement, das sieht auch Tuchel so: "Dann klafft da erstmal eine Lücke." Und ein weiterer Makel an seinem Revers. Die Zweifler und Kritiker, intern wie extern, würden noch lauter werden.
Alonso dagegen, in Leverkusen mit einem Arbeitspapier bis 2026 ausgestattet, soll vom Bleiben überzeugt werden – zumindest noch eine Saison, trotz des Interesses aus Liverpool, das für diesen Sommer einen Nachfolger für Jürgen Klopp braucht, womöglich aus München. Bei Tuchel streben alle Parteien aktuell an, dass er seinen Vertrag bis 2025 erfüllt – was bedeuten würde, dass er mindestens einen Titel im Mai gewinnt. Von einer Vertragsverlängerung allerdings ist man gedanklich weit weg. Könnte aufgehen, siehe Alonso.
Der ist übrigens als Trainer in seinen ersten beiden Liga-Partien gegen die Bayern unbesiegt (ein Sieg, ein Remis). Der letzte Coach, dem dies von 2016 bis 2017 gleich drei Mal ab dem Debüt-Duell gelang, hieß Julian Nagelsmann, damals in Diensten der TSG Hoffenheim. Diesen Samstag wird er im Stadion sitzen. Sicher mit gemischten Gefühlen.