Mit Fremden redet man in Großbritannien übers Wetter, niemals über Politik. Und so war es eine Überraschung, dass ein Anruf bei einem Zeitungsarchiv gleich in einer Politikdebatte endete. "Es ist furchtbar, ganz furchtbar", sagte die ältere Dame am anderen Ende der Leitung. "Ich weiß gar nicht, was aus unserem Land werden soll - die Labour-Partei ist am Ende. Schrecklich, wo soll das enden?!"
Seit mehr als einem Jahr verliert die Regierungspartei jede Wahl. Wahlkreise, die seit Jahrzehnten fest in Labour-Hand waren, gehen an die Oppositionsparteien, Labour verlor zudem die Hauptstadt London und sämtliche Nachwahlen der vergangenen Monate. Jetzt meldet der erste Landkreis in England, dass er nach der gestrigen Kommunalwahl überhaupt keinen Labour-Abgeordneten mehr haben wird. Bis zu 17 Prozent könnte die Arbeiterpratei verloren haben. Und für die Ergebnisse der Europawahl, die am Sonntagabend bekannt gegeben werden, sieht es sogar noch schlechter aus.
Und doch scheint es, als ob Brown auch diese Krise überleben wird. Obwohl es noch in der Nacht von Donnerstag auf Freitag so aussah, als ob der große Knall in die Labour-Partei bevorstünde. In der letzten Zeit wirkte die Partei angesichts von Wirtschaftskrise und Spesenskandal gelähmt wie ein Kaninchen, das in die Scheinwerfer eines sehr schnellen, sehr großen Lastwagens starrt, der unaufhaltsam auf das Tier zurast.
Doch dann übernahm James Purnell, zuständig für Arbeit und Renten im Kabinett des britischen Premiers, die Initiative. "Lieber Gordon", schrieb er in einem Brief, den er gleich an zwei große Tageszeitungen schickte. "Wenn Du weiter die Labour-Partei führst, wird ein Sieg der Konservativen bei der nächsten Wahl immer wahrscheinlicher. Das wäre katastrophal für unser Land. Ich rufe Dich daher auf, zurückzutreten, um unserer Partei die Chance auf einen Wahlsieg zu geben." Schrieb es und verkündete seinen Rücktritt.
Ein Hoffnungsträger ohne Spesenvergangenheit
Der 39-jährige gilt als große Hoffnung der Labour-Partei. Und anders als die beiden Ministerinnen, die kürzlich ebenfalls zurücktreten sind, war Purnell nicht durch den Spesen-Skandal beschädigt worden. Ganz im Gegenteil. Noch vor wenigen Tagen soll Gordon Brown ihn gefragt haben, ob er sich für das Amt des Erziehungsministers interessiere. Als Antwort gab Purnell dem Premier einen öffentlichen Korb.
Cornelia Fuchs
London ist der Nabel der Welt und Europa immer noch "der Kontinent". stern-Korrespondentin Cornelia Fuchs beschreibt in ihrer wöchentlichen stern.de-Kolumne das Leben zwischen Canary Wharf und Buckingham Palace, zwischen Downing Street und Notting Hill.
Viele Kommentatoren gingen deshalb davon aus, dass dies der tödliche Schlag hätte sein können, der Anfang vom Ende für Brown. Dafür hätten sich aber die Parteigrößen hinter Purnell versammeln müssen. Viele Wähler setzen ihre Hoffnung auch auf Alan Johnson, eine Art Franz Müntefering der Labour-Partei, der sich vom Postboten bis zum Gesundheitsminister hochgearbeitet hat, und der als Wunschkandidat vor allem der Parteibasis und der Gewerkschaften gilt.

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Statt gegen Brown, arbeitet er nun für Brown
Doch scheinen Johnson die Ambitionen eines Müntefering zu fehlen. Statt den Schlag gegen Brown zu führen, ließ er sich nun von seinem Premier als neuen Innenminister ausrufen. Dasselbe gilt für den Außenminister David Miliband, der ebenfalls als Nachfolger gehandelt wurde. In der BBC gab er zu Protokoll: "Heute ist ein Tag, um gegen die Krise zu arbeiten und nicht, um zurückzutreten." Angesichts der überraschend geschlossenen Kabinettsfront ist Oppositionsführer David Cameron frustriert, forderte aber unverdrossen und wie seit Wochen schon, dass Brown endlich Neuwahlen ausrufen solle. Wann das sein wird, ist in Großbritannien vom Willen des Premierministers abhängig, der nur daran gebunden ist, sie innerhalb von fünf Jahren nach seiner Wahl anzuberaumen. Theoretisch könnte sich Brown damit noch bis zum nächsten Frühjahr Zeit lassen.
Doch auch, wenn Brown die vielen kleinen Attacken auf seine Autorität übersteht - er ist schwer angeschlagen. Der politische Kommentator der Wochenzeitschrift "Spectator", Martin Bright, sieht sich angesichts der Selbstzerfleischung der Labour-Partei an das Shakespeare-Drama "Hamlet" erinnert - mit Gordon Brown in der Rolle des tyrannischen Königs Claudius, der seine Macht auch über Leichen gehend, zu retten versucht.
Noch tragischer als die Figur des willkürlichen Königs, ist in "Hamlet" die des Prinzensohnes, in diesem Fall die Labour-Partei. Ihr endloses Zögern und Zweifeln lässt sie den richtigen Moment verpassen, um sich und das Königreich zu retten. "Ich kann nicht aufhören, mir die jüngere Generation der Kabinettsmitglieder vorzustellen", schreibt der Zeitungskommentator, "die alle versäumt haben, einen Premier anzugehen, von dem sie wissen, dass er ihrer Partei schadet. Wie Hamlet sind sie allein dafür verantwortlich - und wie bei Hamlet ist das Tragische, dass sie sich dieser Tatsache sehr bewusst sind."