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Bauch und Psyche Das Geheimnis kluger Entscheidungen

Kopf oder Bauch? Autorin und Tiefenpsychologin Maja Storch erzählt im Interview, wie man sich klug entscheidet und welche Rolle dabei das unbewusste Bewertungssystem des Menschen spielt.

Für das Bauchgefühl haben Sie und Ihr Team an der Universität Zürich das Bild eines lustigen Strudelwurms entwickelt. Wofür steht das bunte Würmli?

Das Würmli ist eine Metapher für unser unbewusstes Bewertungssystem. Es ist evolutionär viel älter als der Verstand und verarbeitet Informationen rasend schnell. Innerhalb von 200 Millisekunden antwortet es auf Reize mit einer Körperreaktion oder einem Gefühl. Sie sehen zum Beispiel auf dem Bildschirm eine E-Mail mit einer bestimmten Betreffzeile - und spüren ein diffuses Grummeln. Ihr Wurm sendet Ihnen ein körperliches Signal, der Hirnforscher Antonio Damasio nennt es einen somatischen Marker. Ich nenne es Grmpfl, weil der Wurm sich sprachlich nicht ausdrücken kann und nur Unbehagen meldet, so ähnlich wie in Comic-Sprechblasen, in denen nur "knirsch", "ächz" oder "stöhn" steht. Jeder kennt solche Grmpfl-Gefühle, die von anderen ausgelöst werden. Von Grmpfl-Kollegen, Grmpfl-Kunden, Grmpfl-Verwandten.

Grmpfl ist also ein negativer somatischer Marker.

Ja, aber womöglich bemerken Sie ihn nicht. Negative Marker wie ein Grummeln wahrzunehmen fällt den meisten Menschen zwar leichter, als positive wie Wärme im Bauch oder Weite im Brustraum zu spüren. Aber es gibt auch viele Leute, die große Schwierigkeiten haben, ihre somatischen Marker überhaupt zu spüren.

Zum Weiterlesen:

Maja Storch: "Machen Sie doch, was Sie wollen! Wie ein Strudelwurm den Weg zu Zufriedenheit und Freiheit zeigt", Huber-Verlag, 2010, 135 Seiten, 17,95 Euro

Maja Storch: "Das Geheimnis kluger Entscheidungen. Von Bauchgefühl und Körpersignalen", Piper-Verlag, 6. Auflage 2011, 143 Seiten, 8,99 Euro

Woran liegt das?

Das hat viel mit Erziehung zu tun, mit Elternbotschaften, die wir verinnerlichen. Wir alle kommen mit diesem unbewussten Bewertungssystem auf die Welt. Aber viele werden als Kinder darauf getrimmt, ihre Bauchsignale zu ignorieren mit Sätzen wie: Das bildest du dir ein. Sei nicht so empfindlich. Wer mit solchen Botschaften aufwächst, verliert den Zugang zum Bauchgefühl. Ganz extrem ist das bei Menschen mit Essstörungen. Auf die Frage, was sie gerade fühlen, antworten sie typischerweise mit: "Also, ich denke, ich bin wahrscheinlich jetzt wütend." Aber sie fühlen es nicht! Andere können ihre Wurmsignale zwar spüren, wissen aber nicht, was sie damit machen sollen. Da fragt der Kollege kurz vor Feierabend, ob Sie morgen das Protokoll für ihn übernehmen können. Ihr Wurm sendet ein Grummeln, trotzdem antworten Sie: "Ja klar, mache ich."

Wie können wir in solchen Situationen angemessen reagieren?

Ich empfehle, sich einen Moment Zeit zu nehmen und Bauch und Kopf zu befragen, um zu einer stimmigen Antwort zu kommen. Der Kopf sollte auf jeden Fall mitreden. Ich halte nichts von Esoteriksprüchen wie "Folge deinem Herzen" oder "Folge deinem Bauch, denn er hat immer recht." Das ist Blödsinn.

Kann sich auch der Bauch täuschen?

Natürlich: Er bildet Wahrscheinlichkeitshypothesen aufgrund von Erfahrungen, und diese Hypothesen können richtig oder falsch sein. Wenn Sie also das berühmte Grmpfl spüren, müssen Sie es mit dem Verstand abgleichen und sich fragen: Ist dieses Bauchgefühl in dieser Situation mit dem Kollegen angebracht? Falls ja, wie können Sie reagieren, außer eilfertig Ja oder schnippisch Nein zu sagen? Vielleicht so: "Bitte gib mir eine halbe Stunde, um meinen Terminkalender zu prüfen, ich gebe dir dann Bescheid." Wir haben nicht umsonst zwei unterschiedliche Bewertungssysteme, also sollten wir auch beide benutzen. Ein Mister Spock, der alles nur mit dem Verstand angeht, trifft genauso schlechte Entscheidungen wie jemand, der nur aus dem Bauch heraus handelt.

Es gibt also einige Missverständnisse mit dem Bauchgefühl.

Die Begriffe Bauchgefühl und Intuition werden oft nicht präzise verwendet. In der Esoterikszene wird Intuition oft mit Telepathie vermischt. Das Bauchgefühl, von dem ich spreche, hat damit absolut nichts zu tun. Es ist ein Erfahrungsgedächtnis, das auf dem Boden der Empirie funktioniert. Es verarbeitet Erfahrungen und versieht sie mit einer Markierung. Dieses System ist extrem schnell, es durchforstet das Archiv parallel über assoziative Netzwerke, während der Verstand seriell funktioniert und nur eins nach dem anderen erledigen kann - wie mein erster Computer, bei dem ich erst das Textprogramm schließen musste, damit er drucken konnte. Die Qualität dessen, was das parallel arbeitende System ausspuckt, hängt natürlich davon ab, was im Archiv gespeichert ist.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Bauch oder Kopf? Was ist wichtig für gute Entscheidungen?

Je mehr Erfahrung, desto verlässlicher das Bauchgefühl?

Wenn ein Patient als Notfall eingeliefert wird, hat Oberschwester Hildegard, die seit 30 Jahren im Dienst ist, ein besseres Bauchgefühl als der Arzt, der gerade frisch von der Uni kommt. Ein Neuling kann sich auf sein Bauchgefühl nicht verlassen, weil er noch keine Datenbasis hat. Wir kommen mit zwei Archivbeständen auf die Welt: mit angeborenen Instinkten und erworbenen Erfahrungen. Schon im Mutterleib wird alles, was emotional eindrücklich ist, gespeichert und mit einer Markierung versehen. So wird das Archiv im Lauf des Lebens aufgebaut.

Wenn ich ein komisches Gefühl habe gegenüber jemandem, den ich nicht kenne, liegt das vielleicht daran, dass er mich an jemanden erinnert, mit dem ich schlechte Erfahrungen gemacht habe. Dann wäre es doch nicht klug, meinem Bauchgefühl zu folgen.

Psychoanalytisch würde man das Übertragung nennen. Mithilfe der somatischen Marker kann man heute genau beschreiben, was da passiert. Angenommen, Sie wurden als Kind von einem rothaarigen Jungen mit Sommersprossen gehänselt. Und jetzt bekommen Sie einen Kollegen, der auch rote Haare und Sommersprossen hat. Dann kann es sein, dass dieser Stimulus das neuronale Netz mit den hässlichen Erinnerungen triggert. Und auf einmal ist Ihnen der Kollege unsympathisch. Deshalb ist es wichtig, die somatischen Marker zu beachten, aber sie zu überprüfen: Kann ich die Wurmbewertung ernst nehmen, oder ist sie Blödsinn? In der Psychoanalyse nennen wir das: die Übertragung zurücknehmen.

Und wenn Bauchgefühl und Verstand zu unterschiedlichen Schlüssen kommen?

Mit diesem Dilemma habe ich im Coaching ständig zu tun. Oft geht es um den Job oder die Partnerschaft. Kürzlich hatte ich eine Frau hier, die todunglücklich ist mit ihrem Mann, sich aber immer wieder sagt, mit 56 könne sie froh sein, überhaupt einen Partner zu haben. Ich halte das für Quatsch. Entgegen dem Klischee gibt es viele Männer, die keine deutlich jüngere Partnerin wollen, weil ihnen das zu anstrengend ist. Ich habe schon vielen Frauen geraten, auf die Piste zu gehen - sie haben alle einen Mann gefunden.

Worauf sollten wir achten, wenn wir Entscheidungen treffen müssen?

Auf das Selbstmanagement, das uns grundsätzlich zwei Möglichkeiten gibt. In Wurmsprache gesprochen: Ich kann mich zusammenreißen und meinen Wurm würgen - oder auf meine Bauchsignale hören, dann Kopf und Bauch befragen, um zu einer Entscheidung zu kommen, mit der es mir gut geht und die meinem Wurm gefällt. Viele Menschen in unserer Kultur entscheiden sich jedoch dafür, ihren Wurm zu würgen: Sie beißen die Zähne zusammen, reißen sich am Riemen, ziehen etwas durch, obwohl ihr Bauch SOS funkt. Aus der klinischen Psychologie wissen wir aber, dass chronisches Wurmwürgen krank macht. Wenn Sie über einen langen Zeitraum Ihre Bauchsignale unterdrücken, entsteht Stress.

Aber ohne Zusammenreißen geht es oft nicht.

Natürlich müssen wir alle mal unseren Wurm würgen und zum Beispiel zum Zahnarzt gehen, obwohl der Bauch grummelt. Diese Fähigkeit, mit der Verstandeskraft Impulse aus dem Überlebenssystem zu hemmen, ist wunderbar. Sonst könnten wir es in überfüllten U-Bahnen nicht aushalten und würden uns in Konferenzen danebenbenehmen. Kurzfristig Unlustgefühle zu über-winden ist kein Problem, aber als Lebenskonzept kann ich das nicht empfehlen. Meine Faustregel lautet: zwei Drittel freier, ein Drittel gewürgter Wurm.

Und wenn mich mein Job fertigmacht und ich Angst habe zu kündigen?

Sie müssen erst einmal verstehen, warum Ihr Wurm Grmpfl-Signale schickt. Das klingt banal, ist aber nicht selbstverständlich, denn Ihr Wurm drückt sich nun mal nicht eloquent aus. Sie müssen das Alarmsignal, das Sie bekommen, erst deuten. Woran liegt es, dass Sie sonntags schon die Krise kriegen, wenn Sie an Montag denken? Am Chef? Oder weil Sie in ein Großraumbüro ziehen mussten? Hat man Ihnen Ihre Lieblingsaufgabe weggenommen, sodass Ihnen die Arbeit nicht mehr gefällt?

Erst wenn Sie verstanden haben, woher das Grmpfeln kommt, können Sie mit dem Verstand Strategien entwickeln, um es zu beseitigen. Ich empfehle, mit möglichst vielen anderen Menschen Ideen zu sammeln. Dann schmoren Sie nicht nur im eigenen Saft, und Ihr Würmli kann entscheiden, welche Idee ihm am besten gefällt. Eine Kollegin von mir hat beispielsweise zwei Heimarbeitstage ausgehandelt. Seither geht es ihr viel besser, sie musste nicht kündigen. Ihr Würmli ist glücklich, weil es nur noch an drei Tagen pro Woche in der Firma ist.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum Wurmwürgung nicht gesund ist.

Oft heißt es: Stell dich nicht so an, du wirst nicht dafür bezahlt, dass es dir Spaß macht.

Dieses Gerede vom inneren Schweinehund, den es zu überwinden gilt, kann ich nicht mehr hören. Wurmwürgung ist nun mal nicht gesund. Das belegen sämtliche Studien. Leider haben wir in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine lange Reiß-dich-am-Riemen-Tradition mit schlimmen Folgen für unsere Gesundheit. Darum machen wir so gern Urlaub im Süden - als Ausgleich zu unserer Wurmwürgekultur.

Aber wo kämen wir hin, wenn jeder nur noch machte, wozu er Lust hat?

Die Vorstellung, dass der Wurm nur das Lustprinzip verkörpert, ist ein Missverständnis. Er ist vielmehr ein erstaunlich soziales Wesen. Jeder gut sozialisierte Mensch hat in seinem Würmlisystem auch die erwarteten Reaktionen der Umwelt gespeichert. Wenn Sie zum Beispiel keine große Lust haben, auf Tante Herthas 75. Geburtstag zu gehen, und sich überlegen, ohne Angabe von Gründen fernzubleiben, kann es sein, dass Ihr Wurm Ihnen wahrscheinlich einen negativen somatischen Marker schickt, weil er damit rechnet, dass dieses Verhalten von vielen aus der Familie als extrem unhöflich eingestuft wird. Der Wurm denkt sozial und berücksichtigt die Werte, die Ihnen wichtig sind.

Könnte das auch mal Abgrenzung bedeuten?

Ich habe gerade einen Mann gecoacht, der sich zwei Jahre lang von einer Frau am Nasenbändel führen ließ. Mal fand sie ihn toll, dann wieder langweilig, mal brauchte sie ihre Autonomie, dann kam sie wieder zurück. Wir haben verschiedene Varianten durchgespielt. Die Vorstellung, sie eiskalt ohne Begründung abzuservieren, löste bei ihm einen klaren positiven somatischen Marker aus. Das Hin und Her zu beenden war für ihn lebensrettend. Sehr hilfreich, um zu einer stimmigen Entscheidung zu kommen, ist übrigens die Affektbilanz.

Was ist das?

Ein wunderbares Hilfsmittel für Menschen, die sich schwertun, ihre Gefühle wahrzunehmen, vor allem wenn sie, wie oft in Liebesbeziehungen, nicht eindeutig sind. Der Wirrwarr lässt sich ordnen, indem man zwei Skalen aufmalt: eine von 0 bis 100 für die positive Wurmreaktion, eine von 0 bis minus 100 für die negative. Ein schwaches negatives Gefühl liegt dann bei minus 20, ein starkes positives bei plus 85. Es ist wichtig, die Bilanz wirklich aufzumalen. Wenn man sich die Skala nur mental vorstellt, funktioniert die Methode nicht so gut. Der Wurm drückt sich über den Körper aus.

Kommt das nicht vielen Leuten albern vor?

Dafür ist die Wurmmetapher hilfreich. Sie kommt so leicht und harmlos daher, aber wir haben mehrere Jahre daran gearbeitet, in diesem Bild steckt das gesammelte Wissen. Das Würmli-Bild hilft den Menschen, etwas Distanz zu sich zu gewinnen und humorvoll mit ihren Bauchgefühlen umzugehen. Sie beginnen, für ihr Würmli zu sorgen - als würden sie sich um einen Welpen kümmern.

Manager hörte man zuletzt öfter sagen, sie hätten wichtige Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen. Ist es gerade in, von Intuition zu reden?

Ich halte das für Modegeschwätz. Führungskräfte haben keine besondere intuitive Begabung. Sie nehmen somatische Marker genauso gut oder schlecht wahr wie andere auch. Reine Bauchentscheidungen sind ohnehin Unfug, sie müssen mit dem Verstand synchronisiert werden. Deshalb will ich auch keinen Chef, der herumrennt und aus dem Bauch heraus Entscheidungen trifft. Der soll sich auf seine vier Buchstaben setzen, überlegen, wie es weitergehen soll, und einen Plan machen.

Birgit Schönberger GesundLeben

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