Die asiatischen Zeitungen loben die Tapferkeit des deutschen Bundeskanzlers, der sich in den Zeiten von SARS, der im Süden Chinas entsprungenen Lungenkrankheit, nach Malaysia, Singapur, Indonesien und Vietnam wagt. "Schröder trotzt SARS", lobt die South China Morning Post, eines der angesehensten Blätter der Region. Fotos zeigen Schröder händeschüttelnd und natürlich ohne Anti-SARS-Mundschutz. Die den Kanzler begleitende Wirtschaftsdelegation sei freilich von 120 auf 30 geschrumpft, meldet die Zeitung. Ich stelle fest:
1. Ja, natürlich trägt Gerhard Schröder bei seiner Asienreise keine Maske.
Das ist er gewohnt. Schließlich steht er seit Wochen am Pranger, nicht nur ohne Gesichtsschutz, sondern gänzlich ungeschminkt, oder besser abgeschminkt, letztlich nackt. Der Mann, der nach den bleiernen Kohl-Jahren versprach, die Arbeitslosigkeit auf wenigstens 3, 5 Millionen zu drücken, muss nun 5,5 Millionen Arbeitslose verantworten. Der Mann, der vor den Bundestagswahlen Hartz aus dem Hut zauberte, steht nun als Trickbetrüger dar. Wahrscheinlich wünscht sich Schröder eine Maske, denke ich: nicht für Asien, sondern für Deutschland. Dann würden die Wähler vielleicht nicht merken, dass er lange schon das Gesicht verloren hat.
2. Die globalisierungsverliebten Manager kneifen, wenn es um ihre eigene Haut geht.
Mag sein, dass der eine oder andere nicht in den Asienflieger des Kanzlers steigt, weil ein geplanter Abschluss wegen des SARS-verursachten Wirtschaftseinbruchs in Asien nicht zustande kommt. Mag sein, dass der eine oder andere in diesen Wochen nicht so gerne mit einem Kanzler gesehen wird, der in Gefahr ist, mit dem Brandmal "gescheitert" in die deutschen Geschichtsbücher einzugehen.
Die meisten aber haben schlicht Angst, sich mit SARS zu infizieren. Dies hält der Schreiber dieses Tagebuches für hysterisch. Vielleicht aber ist es auch symptomatisch. Die traurigen Bilanzen vieler deutscher Unternehmen zeugen davon, dass das hochbezahlte Spitzenpersonal nicht rechnen kann.
Was SARS betrifft, ist die Wahrscheinlichkeit bei einer Kanzlerreise angesteckt zu werden, etwa so hoch wie die von einem vom Himmel fallenden Asteroiden erschlagen zu werden. Selbst in China, in dem die Seuche außer Kontrolle geraten ist und die Pekinger Behörden bei über 50 Prozent der Neuansteckungen nicht wissen, wo sich die SARS-Opfer infiziert haben, ist es bei jährlich 110 000 Verkehrstoten immer noch vierhundertmal wahrscheinlicher bei einem Autounfall ums Leben zu kommen als an SARS zu sterben. Mit Vernunft hat auch die Flucht vieler Ausländer aus Peking nichts zu tun (Lesen Sie dazu auch die Tagebucheinträge vom 7. Mai: "Eine misslungene Flucht aus Peking" und vom 2. Mai: "Einsam in Peking").
Über den Autor
Matthias Schepp, 39, arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt für den stern. Von 1992 bis 1998 berichtete er aus Moskau, 1999 eröffnete er das Büro des stern in der chinesischen Hauptstadt. Mit seiner Frau und den beiden Kindern Moritz (3) und Max (1) lebt er im Zentrum Pekings. Schepp, der in Mainz und Dijon Geschichte studierte, sagt von sich selbst: "Mich interessiert das Verhalten von Menschen in Krisen- und Umbruchzeiten. Das Ende des Kommunismus ist mein großes Thema. In Russland war es gleichsam ein Sekundentod, in Peking beobachte ich das langsame Sterben der Ideen von Marx, Lenin und Mao."
In den internationalen Schulen der Hauptstadt fehlen bis zu 30 Prozent der Manager- und Diplomatenkinder. Die chinesische Regierung, die SARS vier Monate unter den Teppich kehrte (Tagebucheintrag vom 5. Mai: "Reform oder Revolution - wie SARS China verändert") schürt die Panik, indem sie seit Wochen die Kindergärten geschlossen hält, obwohl Kinder allem Anschein nach über eine natürliche Immunität gegen SARS verfügen (Vergleichen Sie den Tagebucheintrag vom 13. Mai: "SARS, mein Sohn und eine Stadt voller Bankräuber").
Mein Hongkonger Kollege, der Publizist Nuri Vittachi, hat mit Recht darauf hingewiesen, dass sich die Zahl der in Hongkonger Straßen herumlaufenden SARS-Infizierten inzwischen wahrscheinlich im einstelligen Bereich bewegt.
Die rund 500 akut an SARS-Leidenden sind alle in Krankenhäusern. Gegenwärtig kommen fast keine Neuansteckungen dazu. Wenn wir von sieben SARS-Trägern ausgehen, die sich in den Straßen der Sieben-Millionen-Stadt bewegen, liegt die Wahrscheinlichkeit, einen davon zu treffen, bei eins zu einer Million. Wie Vittachi fällt es mir schwer zu verstehen, weshalb die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Reisewarnung für Hongkong weiter aufrecht erhält. Warum warnt sie nicht vor Reisen in die USA? Da sterben jährlich 36.000 Menschen an der Influenza. Oder vor Reisen nach Deutschland? Denn auch dort rafft der Grippevirus jährlich mehr als zehntausend Menschen hinweg.
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Jeder Chinese gilt in Deutschland als Biowaffe
Aus der Ferne wundert es mich manchmal, dass in meinem Heimatland noch niemand an SARS-Angst gestorben ist (Bitte lesen Sie dazu meinen Tagebucheintrag vom 9. Mai: "Die Kunst an SARS zu sterben, ohne SARS zu haben"). Heute Morgen erreicht mich ein Anruf von Karsten Gundermann, einem deutschen Komponisten. Der in Sachsen geborene Musiker, der jetzt in Hamburg lebt, hat vor Jahren das Kunststück fertig gebracht, als Ausländer eine in China überaus erfolgreiche Peking-Oper zu komponieren. Als Vorlage diente Gundermann "Die Nachtigall", ein Märchen von Hans Christian Andersen. Für den Herbst hatte der Komponist mit seinem chinesischen Ensemble eine große Deutschland-Tournee geplant, über die der stern berichten wollte. Abgesagt.
"Nicht die Chinesen waren das Problem, sondern die Deutschen", erklärte mir Gundermann am Telefon. Die Veranstalter in mehreren Großstädten fürchteten, das Publikum bliebe dem Auftritt fern, wenn es nur das Wort Peking höre. Offenkundig steht jeder Chinese im Verdacht, eine wandelnde Biowaffe zu sein.
Die Angst geht um in Deutschland
Vielleicht hätte die Bundesregierung ihr verängstigtes Volk beruhigen können, indem Asienreisende an deutschen Flughäfen auf ihre Körpertemperatur untersucht werden. Mit Infrarotmessungen geht das kurz und schmerzlos, wie Kanzler Schröder in Singapur am eigenen Leib erfahren konnte.
Gestern erzählten mir meine Eltern, dass eine Nachbarin nicht mehr mit ihnen spreche, weil meine Mutter ein Päckchen geöffnet hat, dass ich ihnen vor zwei Wochen aus Peking nach Mainz geschickt hatte. Hätten ja SARS-Viren drin sein können. Deutschen Zeitungen entnehme ich, dass der Verband der Zahnärzte Meldungen dementieren musste, wonach Zahnfüllungen aus Asien die Seuche übertragen können. Meine eigene Redaktion ziert sich, eine Bangkok-Reisegeschichte zu drucken. Sie fürchtet, Thailand-reisende stern-Leser statt in die Stadt der Engel, so der Beiname von Bangkok, geradewegs in den Hades zu schicken.
Tatsächlich hat Thailand weniger SARS-Ansteckungen als Deutschland. Die zwei SARS-Toten kamen aus dem Ausland, darunter Carlo Urbani, der italienische Arzt, der die Krankheit in Vietnam entdeckte. In Hamburg auch soll ein Paar, das vor kurzem aus China zurückkehrte, die eigene Hochzeit vor halbleeren Bänken und Stühlen gefeiert haben. Viele Freunde blieben weg, aus Angst vor SARS. Aus dem fernen Peking erlaube ich mir eine Frage: Wie reagieren wir Deutsche, wenn wir wirklich einmal mit einer Epidemie konfrontiert sind?
Matthias Schepp