Nicht einmal ihre beiden Pferde konnte Ingrid Wagner (Name von der Redaktion geändert) in ihren schlimmsten Phasen versorgen. Dabei sind die zwei eigentlich ihre große Freude. Aber die Schatten, die sie immer wieder überfielen, waren stetig dunkler geworden. Die 58-jährige Bürokauffrau nahm keine Einladungen mehr an und traute sich kaum noch aus dem Haus. "Autofahren ging gar nicht mehr", sagt sie. Nachts lag sie wach, am Tag kamen ihr aus dem kleinsten Grund die Tränen. Ihre Hausärztin stellte schließlich die Diagnose Depression und sagte: "Sie brauchen sofort eine Therapie."
Doch das ist leicht gesagt, wenn man in der Provinz in Sachsen-Anhalt wohnt. "In der Gegend gibt es ganze zwei Therapeuten", erzählt Wagner. "Beide sagten: Melden Sie sich in einem halben Jahr wieder." Dann las sie von einem Internetprogramm gegen Depressionen. "Ich habe sofort angerufen. Bedenken hatte ich keine. Hauptsache, es hilft!"
Pausen sind gut
Seelische Beschwerden heilen mit einem Computerprogramm - das klingt wie eine Mischung aus Orwells "1984" und "Raumschiff Enterprise". Die Therapeuten der Zukunft heißen nicht mehr Müller und Schulze, sondern Deprexis, Novego, Get.on oder net-step, und sie bestehen nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Nullen und Einsen. Kann das funktionieren? Sicher ist: Diese Behandlungsform entwickelt sich mit Lichtgeschwindigkeit - und sie wird immer besser erforscht.
Wer im Netz mit den Begriffen "Depression" und "Onlinetherapie" sucht, stößt auf viele Angebote. Es gibt Beratung durch niedergelassene Psychotherapeuten, die nur über E-Mail abläuft, reine Onlineprogramme ohne menschliche Unterstützung und eine Mischung aus beidem: automatische Programme, die ab und zu einen Therapeuten einbeziehen. "Die Mischform ist am weitesten verbreitet und am besten erforscht", sagt Thomas Berger, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bern.
Anfang März bekommt Ingrid Wagner den Zugangsschlüssel für Deprexis, ein reines Onlineprogramm. Als sie sich einloggt, fragt es sie zunächst, was ihr besonders Probleme mache. "Ich hatte gleich das Gefühl, da sitzt mir einer gegenüber", sagt sie heute. In einer Liste kreuzt sie Schlafstörungen an - anschließend zeigt ihr Deprexis Atemtechniken und eine Anleitung für Traumreisen. Wagner probiert es mit der Vorstellung, mit dem Pferd an einem Strand zu galoppieren. "Komischerweise hat das geholfen." Am nächsten Tag bekommt sie eine SMS: "Kleine Übung: Atmen Sie dreimal tief durch. Mit jedem Atemzug wird der Abstand zu den Problemen größer."
Wie wirksam sind Online-Programme?
Die meisten Onlineprogramme basieren auf der klassischen Verhaltenstherapie: Der Patient bekommt Übungen, um sein Verhalten zu verändern und so seine Stimmung zu beeinflussen. Nur dass die Tipps nicht vom Therapeuten erklärt werden, sondern vom Computer.
Als Onlinebehandlungen starteten, waren viele Experten skeptisch. Ein Computer soll können, wozu sonst acht Jahre Ausbildung nötig sind? "Erst habe ich auch nicht daran geglaubt", sagt Philipp Klein, Psychiater an der Uniklinik Lübeck. "Aber die Forschung hat mich überzeugt." Klein ist an einer bundesweiten Untersuchung über Deprexis beteiligt. Weltweit liegen über 1000 Studien zu Onlineprogrammen vor. Forscher des Karolinska-Instituts in Stockholm sichteten Ende 2012 die wichtigsten 108 Arbeiten und kamen zu dem Schluss: "Für die Behandlung von Depressionen, Angststörungen und sozialen Phobien gilt die Wirksamkeit als nachgewiesen." Im Vergleich zu herkömmlicher Psychotherapie schnitten Onlineprogramme nicht schlechter ab.
Diese Erfolge gelten vor allem für die Mischformen. Reine Onlineprogramme wurden seltener untersucht und zeigten eine geringere Wirkung. Das lag aber vor allem an einer hohen Quote von Abbrechern, die als Misserfolge gewertet wurden. Wer dabeiblieb, profitierte auch von rein technischen Programmen gut. Zur Psychotherapie per E-Mail oder Telefon gibt es erste Erfolg versprechende Studien.
Warum ist Onlinetherapie dann bei uns noch so wenig verbreitet? Viele Anbieter vermeiden sogar das Wort Therapie und sprechen nur von Selbsthilfe. Das könnte daran liegen, dass fast alle Studien aus dem Ausland stammen. "Die Ergebnisse sind aber gut übertragbar", sagt Klein. Deutsche Untersuchungen zu Depressionen gibt es nur eine Handvoll, alle zeigen eine positive Wirkung. Fünf weitere Studien laufen gerade. Für Betroffene hat das einen großen Vorteil: Sie können Online-Therapie kostenlos ausprobieren.
Nur knapp jeder dritte Betroffene sucht Hilfe
Als Wagner sich eine Woche nach ihrem Therapiebeginn an den Computer setzt, ist sie noch niedergeschlagen, aber auch neugierig. In der Sitzung geht es um negative Gedanken, die sie nicht stoppen kann. Deprexis schlägt ihr eine Übung vor, doch mit dieser kann sie nichts anfangen. Sie drückt den Knopf "Das habe ich nicht verstanden", und das Programm zeigt eine andere Übung: Immer wenn die Gedanken kommen, soll sie etwas Angenehmes machen. Sie fängt an, Liebesromane zu lesen - das klappt prima.
"Onlineprogramme haben den Vorteil, dass der Patient weiß, dass er selbst an sich arbeiten muss", sagt der Psychologe Thomas Berger. "Es ist ja kein Therapeut da." Manche Teilnehmer schreiben Heikles zudem lieber auf, als es zu erzählen. Auch Wagner berichtet das: "Ein Therapeut hat vielleicht Vorurteile oder schlechte Laune. Bei Deprexis stimmte der Ton immer." Das größte Plus der Programme ist laut Berger aber, dass man Menschen erreiche, die vielleicht nie in eine Praxis kämen. Und das sind die meisten: Nur knapp jeder dritte Betroffene sucht eine angemessene Therapie. Deshalb sieht die Bundespsychotherapeutenkammer die Telemedizin nun zumimdest als "Chance".
Jeder zweite wählt den Computer-Therapeuten
Diese wittern auch die Krankenkassen. Denn obwohl die Onlineanleitung zur Selbsthilfe bis zu 600 Euro kostet, ist sie viel günstiger als 20 Stunden bei einem Psychotherapeuten. Mehrere Kassen unterstützen die aktuellen Studien. In England und Schweden gehört Onlinebehandlung bereits zur Regelversorgung. Die Psychiatrie des Karolinska-Instituts fragt alle neuen Patienten, ob sie lieber persönlich behandelt werden möchten oder von einem Programm. Jeder zweite wählt den Computer. "Onlineprogramme dürfen aber nicht dazu führen, dass es weniger Geld für normale Psychotherapie gibt", warnt der Lübecker Psychiater Philipp Klein. "Viele Patienten werden weiterhin das persönliche Gespräch brauchen." Nicht geeignet ist eine alleinige Online-Therapie zum Beispiel bei Suizidgedanken oder bipolarer Depression, bei der neben depressiven Episoden auch Hochstimmung und Hyperaktivität auftreten.
An einem Sonnabend gibt Ingrid Wagner sich schließlich einen Ruck: Sie geht für eine Stunde mit auf eine Geburtstagsfeier. "Alle haben sich gefreut. Ich habe gemerkt, dass ich dazugehöre, egal, wie es mir gerade geht", sagt sie. Als Belohnung kauft sie sich am Montag darauf eine CD. In der nächsten Sitzung geht es ums Autofahren. Deprexis fragt: "Was ist Ihr Ziel?" Logisch, wieder fahren zu können. "Wie können Sie das in kleine Schritte aufteilen?" Wagner überlegt. Am nächsten Tag fährt sie eine kleine Runde durchs Dorf. "Als ich wieder hier ankam, hab ich mir gesagt: Komm, nun schaffst du noch eine Runde!" Sie macht weiter, fährt abends, nachts, dann bis in die nächste Stadt. "Wenn die Angst zu groß wurde, hab ich angehalten und eine SMS von Deprexis gelesen. Dann ging es wieder."
Onlineprogramme sind keine Wundermittel
Im Rückblick klingt es manchmal, als wäre das alles ganz einfach gewesen. Aber auch ein Onlineprogramm ist kein Wundermittel, sondern eine Anleitung für harte Arbeit. "Oft hat eine Technik auch nicht gleich funktioniert", sagt Wagner. "Aber ich habe trotzdem weitergemacht - und plötzlich ging es." Schritt für Schritt kämpft sie sich zurück ins Licht. "Besonders geholfen hat mir, dass das Programm jederzeit verfügbar war. Einen Therapeuten hätte ich ja nicht nachts um zwei anrufen können."
"Für den Einzelnen kann ein Onlineprogramm ein Ersatz für eine Psychotherapie sein", sagt Thomas Berger, "für das gesamte Gesundheitswesen nicht." Aber es ist ein zusätzliches Werkzeug, das Menschen helfen kann - am besten, bevor sie krank werden. Die Universität Lüneburg erforscht zurzeit "Get.on Stimmung", ein Programm für depressionsgefährdete Menschen. "Wir hoffen, dass wir damit die Entwicklung der Krankheit verhindern können", sagt Dirk Lehr, Psychotherapeut und Projektleiter. Erste Ergebnisse machen Mut.
Ingrid Wagner geht es nach drei Monaten deutlich besser. Manchmal kehren die Schatten zurück, aber dann macht sie eine ihrer Übungen. "Ich bin der Depression nicht mehr ausgeliefert", sagt sie. Trotzdem fällt ihr der Abschied von Deprexis schwer. Die SMS-Nachrichten hat sie deshalb alle aufgehoben. "Man hat ja irgendwie doch eine Beziehung aufgebaut."