Kennen Sie den Semmelweis-Reflex? Nein, das ist keine Weißmehlbrötchenunverträglichkeit. Gemeint ist der Reflex, neue Ideen als Quatsch abzulehnen. Namensgeber ist Ignaz Semmelweis. Im 19. Jahrhundert war dem ungarischen Frauenarzt aufgefallen, dass Frauen im Kindbett häufiger starben, wenn sie statt von Hebammen von Medizinern untersucht worden waren. Semmelweis wollte wissen, warum, und untersuchte die Mütter noch gründlicher. Doch dadurch stieg die Zahl der Todesfälle weiter an. Irgendwann weigerten sich die Schwangeren, zu ihm verlegt zu werden - mit weiblicher Intuition ahnten sie lange vor der Wissenschaft, dass es einen Zusammenhang geben musste.
Semmelweis nahm sie ernst. Obwohl damals Bakterien als Krankheitsverursacher nicht bekannt waren, bemühte er sich um Hygiene. Nachdem er seine Studenten angewiesen hatte, Hände und Instrumente mit Chlorkalk zu desinfizieren, sank 1848 die Sterblichkeit der Wöchnerinnen und Neugeborenen dramatisch. Dennoch wollte die Ärzteschaft nichts von seiner Entdeckung wissen. Hygiene galt als Zeitverschwendung.
Es dauerte mehr als 20 Jahre, bis eine neue Generation von Medizinern begann, sich vor dem Kontakt mit Patienten die Hände zu säubern - bis heute keine Selbstverständlichkeit.
Keimschleuder Stethoskop
Noch unbegreiflicher als die 20 Jahre währende Semmelweis-Reflexstarre erscheint mir, dass eine weitere offensichtliche Infektionsquelle erst 2014, also 166 Jahre später, ernsthaft unter die Lupe genommen wird: das Stethoskop. Von jeher Insignie der Zunft, unerlässlich zum Abhören von Herz, Lunge und Darm, trägt seit dem Erfolg amerikanischer Krankenhausserien auch der deutsche Nachwuchs-Clooney das Ding lässig um den Hals baumelnd statt in der Kitteltasche. In einer aktuellen Studie der Genfer Uni-Klinik machten Forscher Abstriche von Ärztehänden und den Kontaktflächen ihrer Stethoskope. Große Überraschung: Auf Händen wie Geräten tummelten sich die gleichen Keime, darunter ganz gefährliche, gegen die weder Kraut noch gängige Antibiotika gewachsen sind.
Die Ärzte gaben zu, sich zwar öfter am Tag die Hände zu waschen - eine Hand die andere -, sich aber kaum um ihr Stethoskop zu kümmern. Dabei ist es ja der Vorteil des Abhörinstruments, dass der Arzt sein bakterienbesiedeltes Ohr nicht mehr direkt an den Patienten hält. Auf manchen Intensivstationen gehört zu jedem Patienten ein Stethoskop, das dann verschiedene Ärzte benutzen. Wobei es einem als Arzt -unhygienischer erscheint, sichtbaren Ohrenschmalz auf Kollegen zu übertragen als unsichtbare Keime auf -Patienten. Bis saubere Stethoskope für alle Patienten Standard werden, gehen wohl wieder Jahrzehnte ins Land. In einem englischen Lehrkrankenhaus fragte mich einmal ein Oberarzt: "Was ist der wichtigste Teil des Stethoskops?" Da ich keine gute Antwort hatte, löste er lachend das Rätsel: "Der Teil zwischen den Ohrenstöpseln."