Medizin "Das ist der reinste Horror"

Seit 20 Jahren arbeitet Elena Pagona in Entwicklungsländern. Derzeit leitet die Medizinerin ein Aids-Projekt von "Ärzte ohne Grenzen" in Guatemala - und kämpft gegen Geldmangel, Korruption und den Tod

Sein Brustkasten sticht eckig unter dem Köpfchen vor. Die Augen des fünfjährigen Herman blicken in die Ferne, wünschen sich weg vom Durchfall und dem pilzgeplagten Körper. Als die Ärztin Elena Pagano, 54, dem Kind mit einer Liebkosung näher rückt, schlägt Herman sie, wie ein Greis wimmernd, mit seinen Pinocchio-Ärmchen weg.

"Ich kenne diesen Gesichtsausdruck von Kindern in Afrika", sagt die Schweizerin, Missionschefin von "Ärzte ohne Grenzen" in Guatemala. "Wenn der Tod naht, werden sie bösartig." Noch vor zwei Wochen war Herman ein aufgeweckter Spitzbub. "Jetzt wird's ein bitzeli eilig, dass wir mit der Aids-Behandlung beginnen."

Elena Pagano leitet und koordiniert in dem mittelamerikanischen Land die Gesamtmission von "Ärzte ohne Grenzen" (Médecins Sans Frontières, MsF) und ist außerdem Chefin der Schweizer MsF-Mission in Guatemala, die zusammen mit Einsatzgruppen der Spanier, Franzosen und Belgier vertreten ist.

"Guatemala ist der reinste Horror", sagt sie. Ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung, die zu etwas weniger als der Hälfte aus Analphabeten besteht, gilt als HIV-infiziert, das sind etwa 67 000 Menschen. Das korrupte, öffentliche Gesundheitssystem arbeitet nicht effizient, seit Mitte der neunziger Jahre ist Aids bei Männern und Frauen unter 40 die häufigste Todesursache.

Unwissen bedeutet den Tod

"Verstehen Sie, was es für Ihren Herman bedeutet, das Virus zu haben?", fragt Elena Pagano den Vater des Kindes, einen robusten Bauern. Seine Ehefrau ist an Aids gestorben, er selbst infiziert. Als hätte er nichts begriffen, lächelt der Mann höflich. "Der Junge isst halt nicht."

Eine Woche später stirbt der kleine Herman. Sein Tod nimmt Pagano mit. "Wir dürfen in Zukunft nicht mehr zögern", sagt sie. Wegen der schweren Nebenwirkungen von Anti-Aids-Medikamenten waren sie und ihre Kollegen bei der Dosierung unsicher. Warteten. Wollten einen Rat zu viel. Die Behandlung von Aids bei Kleinkindern ist für sie und ihre Projekte neu. "Uns fehlt ein Kinderarzt im Team."

Elena Pagano, seit Mai vergangenen Jahres in Guatemala, war zuvor in Ruanda, im Senegal und dem Sudan, Kasachstan, Tibet, Burundi, in Honduras und Angola. Die gelernte Tropenmedizinerin ist seit 20 Jahren im medizinischen Entwicklungsdienst tätig, seit 1996 für "Ärzte ohne Grenzen". Die Schweiz, sagt sie, war ihr nach dem Studium schnell zu klein.

Morgens um halb sechs erscheint sie als Erste im guatemaltekischen Hauptstadtbüro von "Ärzte ohne Grenzen", abends ist sie die Letzte, die geht. Ihre Mitarbeiter keuchen bisweilen unter ihr, wenngleich voller Anerkennung für Paganos Arbeitspensum. Zum Luftholen kommen sie, wenn die Chefin das Land bereist.

Die Urwaldstadt Coatepeque liegt vier Autostunden nordwestlich von Guatemala City an der Panamericana, jenem berühmten Highway von Alaska nach Feuerland, auf dem neben dem Abenteuer-Mythos das Aids-Virus reist. Hier entstand unter Paganos Ägide eine Aids-Praxis der Schweizer MsF mit 30 neuen Patienten jeden Monat. Es riecht nach Hibiskus. Vor den vergitterten Fenstern der Praxis mit den engen Fluren wachsen Bananenstauden. Die Nachbarn blicken misstrauisch. Vor der Tür sitzt der 13-jährige aidskranke Diego (Name geändert).

Durch den Einsatz antiretroviraler Medikamente ist Aids kontrollierbar geworden. Die Behandlung fordert von den Patienten jedoch ein hohes Maß an Disziplin. Ist die Einnahme unregelmäßig, wird das Virus resistent. Einem weiteren Empfänger dieses Virus ist dann nicht mehr zu helfen. Das Ärzte-Team muss bei jedem Kranken entscheiden, ob er für die lebensrettende Behandlung die nötige Disziplin aufbringen wird. Deswegen legen Pagano und ihre Kollegen ausführliche Patienten-Dossiers an, bevor die erste Pille verabreicht wird.

Diego ist ein Musterpatient. Seine wöchentlichen Kontrolltermine in der Praxis nimmt er pünktlich wahr, die Anzahl seiner weißen Blutkörperchen steigt konstant, "der Beweis dafür, dass er seine Tabletten regelmäßig schluckt und nicht auf dem Schwarzmarkt verkauft", sagt Pagano. Für das Dossier recherchierte die Ärztin, wie Diego infiziert wurde. Der Junge druckste herum. "Wir dachten, er hätte das Virus von seiner Mutter, und haben sie in die Praxis bestellt. Doch sie war negativ."

Es stellte sich heraus, dass Diegos Nachbar Patient der Praxis ist. Der Schock war groß. "Er hat den Jungen vergewaltigt. Was machen wir in so einem Fall? Die Behandlung bei dem Mann absetzen? Ihn anzeigen?" Im Gefängnis bekäme er seine antiretroviralen Medikamente nicht mehr. Dafür finge er sich im Nu eine, für ihn vermutlich tödliche, Tuberkulose ein. Der Mann wurde streng ermahnt. Und weiterbehandelt.

Elena Pagano gehört zu denjenigen bei "Ärzte ohne Grenzen", die sich gezielt für Aids-Behandlungen in der Dritten Welt einsetzen. Langfristige Therapien entsprechen im Grunde nicht der Philosophie der Organisation, die sich hauptsächlich durch Spenden finanziert. Bevor Generika, billigere Kopien der teuren Originale, auf den Markt kamen, war die Behandlung von Aidskranken zu kostspielig. "Im Augenblick kostet uns die Dosis für einen Patienten mit Generika 365 Dollar im Monat", sagt Pagano, "mit den teuren Originalen würde die gleiche Behandlung 5000 Dollar kosten." Sie hofft, dass die Preise der Generika weiter sinken und sie damit die strenge Kontrolle über die Vergabe lockern kann. Jede Anschaffung, jede zusätzliche Ausgabe muss mit der MfS-Zentrale in Genf abgestimmt sein. "Die fordern Protokolle, Berichte und Erklärungen, bevor sie etwas hergeben."

Hauptgewinn: Kondom mit Erdbeergeschmack

Im Puff von Coatepeque spielt die Schweizerin am Nachmittag mit den Dirnen Memory-Spielchen mit gruseligen Bildern von Geschlechtskrankheiten. Hauptgewinn: ein Kondom mit Erdbeergeschmack. Die süßen Pariser sind teuer und werden geschätzt. "Eigentlich ist die Behandlung der Patienten der Schwerpunkt unseres Projektes", sagt Elena Pagano, "aber wir arbeiten in Coatepeque mit einer Vorsorgeorganisation zusammen. Ein paar Kondome sind schließlich billiger als lebenslang Tabletten." Die Regierung in Guatemala City schert sich nicht um Prävention. Und Kranke bleiben sich selbst überlassen.

Metallfarbene Wolken hängen schwer über der Hauptstadt. Dem Taxifahrer fällt auf der Suche nach seinem Quittungsblock vor der stählernen Doppeltür der "Ärzte ohne Grenzen"-Villa ein geladener Revolver aus dem Handschuhfach. "Die Stadt ist voller Mörder", murmelt er.

Präsidentschaftswahlen stehen für November an. Kandidaten, darunter der ehemalige Militärdiktator General Efra?n R?os Montt, beauftragen Schlägerban-den, um Wähler einzuschüchtern. Hinzu kommt die Straßenkriminalität. Viele von Elena Paganos MsF-Kollegen sind auf offener Straße überfallen worden. Der Bürgerkrieg in Guatemala ist offiziell seit 1996 beendet. Arbeitslose Rebellen und Soldaten sind inzwischen in ihre Armenviertel zurückgekehrt, bewaffnet bis an die Zähne.

In der Universitätsklinik von Guatemala City arbeiten "Ärzte ohne Grenzen" mit dem Chef der inneren Medizin, Carlos Mej?a, zusammen. Während seiner Aids-Sprechstunde, bei der der Arzt von MsF-Krankenschwestern unterstützt wird, stehen die Infizierten Schlange bis in den Hof des vierstöckigen Roosevelt-Hospitals hinaus.

Deutschkenntnisse verfügt, hat Elena Pagano den idealen Arbeitspartner vor Ort gefunden. "Er ist verantwortungsbewusst und ein guter Arzt." Wenn er für die Behandlung eines neuen Patienten zusätzlich Medikamente von MfS fordert, stellt ihr der gewiefte Internist manchmal in einem unerwarteten Augenblick den Erkrankten vor. "So kriegt er seine Arzneien", sagt Pagano, die dann ganz Ärztin ist, nicht Verwalterin eines oft klammen Budgets.

In der inneren Abteilung des Roosevelt-Krankenhauses stirbt ein Mann. Rasch wird die Leiche aus dem Schlafsaal mit dem grauen Linoleumboden geschoben. Die junge Frau des Toten steht weinend in der Tür. Eine der wenigen Krankenschwestern reicht ihr die Plastiktüte mit den Habseligkeiten ihres Mannes. Dann führt sie die Frau bestimmt aus dem Raum.

Dreißig andere Kranke dösen, starren an die Decke, tun nichts. Viele haben nicht bemerkt, dass nun ein Bett fehlt. "Für eine eigene HIV-Abteilung fehlt uns der Platz. Die AidsDiagnosen unserer Patienten versuchen wir deswegen in der inneren Abteilung geheim zu halten", sagt Carlos Mejía. "Sonst könnte es eine Panik geben."

Internet

www.aerzte-ohne-grenzen.de
Auf ihrer Homepage beschreibt die Nothilfe-organisation ihr Selbstverständnis, ihre Projekte und was Menschen wissen müssen, die an aktiver Mitarbeit interessiert sind

In der Praxis in Coatepeque arbeitet Pagano gemeinsam mit den dortigen Ärzten daran, Aids das Stigma zu nehmen. Als einem 23-Jährigen seine Diagnose mitgeteilt wird, fragt der Mediziner: "Wissen Sie, was Diabetes ist?" Der Mann schüttelt unsicher den Kopf. Der Arzt fährt fort. "Eine Krankheit, die man nie wieder los wird, das stimmt. Aber eine, auf die man Acht geben kann, die nicht tödlich ist, wenn man aufpasst. Und so ähnlich ist es auch mit Aids, das Sie haben." Pagano honoriert bei der örtlichen Besatzung von "Ärzte ohne Grenzen" persönliches Engagement. Eine Medizinerin in Coatepeque bettelte drei Monate lang um mehr der kostbaren und beschränkten Arzneien, deren Vergabe Pagano mit buchhalterischer Sorgfalt betreibt. Erst als die Ärztin dafür auf einen neuen Computer verzichten wollte, öffnete Pagano den Giftschrank. "Solche Leute brauchen wir in Guatemala. Die werden unsere Arbeit weiterführen, wenn "Ärzte ohne Grenzen" sich wieder anderen Projekten zuwenden muss."

Vielleicht ein Kinderheim

Ihren eigenen Vertrag in Guatemala hat sie bereits einmal verlängert. Sie mag das Land. "Ich denke darüber nach, später hier einmal ein Kinderheim zu eröffnen. Anstatt mich zur Ruhe zu setzen." Am liebsten gemeinsam mit ihrem Ehemann. Er ist Kinderarzt und lebt mit der 22-jährigen Tochter im Tessin. "Schnupfen und Allergien behandeln. Die Kleinen in der Schweiz werden ja kaum krank", sagt Elena Pagano.

"Wie wird er es schlucken?", fragte sie ihre Tochter am Telefon, nachdem sie sich entschlossen hatte, für weitere sechs Monate in Guatemala zu bleiben. "Mama, er ist dein Mann. Nicht meiner", sagte die Tochter nur.

Für das halbe Jahr gab er sein Einverständnis, im Januar läuft ihr Vertrag aus. Wenigstens könne sie noch Weihnachten hier verbringen, sagt Elena Pagano. "Wenn ich vor Heiligabend in der Schweiz ankäme, kriegte ich Depressionen. Die Kälte, und dann der Weihnachtskonsum. Wär' ein bitzeli viel für mich, nicht wahr."

Michael Saur

"Ärzte ohne Grenzen"

Die in Frankreich gegründete internationale Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen in Kriegs- und Krisengebieten und nach Naturkatastrophen ärztliche Hilfe zu bringen, und zwar ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft und ihrer politischen oder religiösen Überzeugungen. Dafür wurde sie 1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Etwa 16 000 Mitarbeiter sind in mehr als 80 Ländern tätig - zu je einem Drittel Mediziner, Pflegepersonal und Nichtmediziner (z. B. Logistiker und Ingenieure). Um die Unabhängigkeit zu wahren, finanziert sich "Ärzte ohne Grenzen" mindestens zur Hälfte aus Spenden.

"Ärzte ohne Grenzen", deutsche Sektion:

Spendenkonto 97 0 97
bei der Sparkasse Bonn,
BLZ 380 500 00.


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"Guatemala"

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