Nach der Massenpanik in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul ist die Anzahl der Todesopfer jüngsten Angaben zufolge auf mehr als 150 Menschen gestiegen. Tausende, vor allem junge Menschen hatten sich zu den ersten Halloween-Feiern seit Beginn der Corona-Pandemie 2020 am Samstagabend in den engen Straßen des Viertels Itaewon gedrängt. Dabei entstand etwas, was oft "Massenpanik" genannt wird.
Wie kommt es zu solchen Unglücken?
Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, des Disney Research Zürich, der ETH Zürich und der Rutgers University haben sich genau dieser Frage in einer Studie gewidmet. Die Ergebnisse wurden 2016 in der Fachzeitschrift "Journal of the Royal Society Interface" veröffentlicht.
Computersimulation erforscht Verhalten von Menschen
Das internationale Forscherteam hatte 36 Probanden in einer dreidimensionalen, virtuellen Umgebung in eine Notfallsituation gebracht. "Alle Probanden saßen dabei gleichzeitig vor Computerbildschirmen und sollten einen Avatar steuern. In mehreren Experimenten untersuchten die Forscher die Verhaltensweisen der Probanden, indem sie ihnen verschiedene Aufgaben stellten und sie beim Lösen unter Stress setzten", heißt es in dem Artikel.
Die Wissenschaftler konnten belegen, dass das Verhalten der Studienteilnehmer im virtuellen Raum weitgehend auf das Verhalten in der realen Welt übertragbar ist.
In einem Beispiel sollten die Probanden in einem schmalen Flur aneinander vorbeigehen, ohne sich zu berühren. "Das Vermeidungsverhalten im virtuellen Raum war dabei das Gleiche, wie es bereits Experimente in der realen Welt zeigten: 95 Prozent der Probanden wählten die rechte Seite, um aneinander vorbeizukommen." Frühere Studien hätten belegt, dass Europäer meistens intuitiv auf der rechten Seite laufen.
Zusammenstöße und Gedränge nehmen unter Stress schnell zu
Um zu sehen, wie sich die Probanden in einer Notsituation verhalten, simulierten die Forschenden eine Evakuierungssituation in einem unübersichtlichen Gebäude mit vier Ausgängen, von denen jedoch nur einer genutzt werden konnte. Der Großteil der Gruppe wusste zwar nicht, welche Ausgangstür die richtige war, allerdings gab es Einzelne, die per Richtungspfeil auf ihrem Bildschirm zur richtigen Tür geführt wurden.
Der Rest der Gruppe wusste dies jedoch nicht, wer genau im Vorteil war. Zudem wurde der Stresspegel erhöht, indem die Probanden unter zeitlichen und finanziellen Druck gesetzt wurden. Das Gebäude musste innerhalb von 50 Sekunden verlassen werden. Schafften die Probanden das nicht, wirkte sich dies negativ auf die Bonuszahlungen am Ende aus. Dazu kamen eine schlechte Beleuchtung, rotblinkende Lämpchen und Feuer an den verschlossenen Ausgangstüren.
Das Ergebnis der Untersuchung: Zusammenstöße sowie Gedränge untereinander nahmen unter Stress schnell zu. Am gefährlichsten war es dabei an Stellen, wo Entscheidungen getroffen werden mussten, es eng wurde und sich Rückstau bildete oder bei Gängen, die in Sackgassen endeten und Menschen zwangen umzukehren und gegen den Strom zu laufen.

Herzstillstände oft Folge bei Massenunglücken
Zudem schauten sich die Forschenden die Gruppendynamiken während der stressigen Evakuierungssituation an. Es zeigte sich, dass Menschen unter hohem Stress und bei Enge den sozialen Signalen in einer Gruppe stärker ausgesetzt sind als in weniger stressigen Situationen. Das bedeutet, sie nehmen stärker wahr, wohin sich eine Gruppe bewegt, was sie tut, wie sie fühlt und sind somit stärker von der Gruppe beeinflusst. Die Ergebnisse legen nahe, dass eine Einzelperson unter Einfluss dieser starken sozialen Signale eher einer Gruppe folgt, wodurch schnell gedrängtes Herdenverhalten entstehe, welches zu Unfällen führen kann.
"Wir konnten zeigen, dass das menschliche Verhalten im virtuellen Raum dem im realen Leben gleicht, was nicht nur der Verhaltensforschung neue Möglichkeiten bietet. So könnten in Zukunft auch Städteplaner oder Architekten solche virtuellen Umgebungen nutzen, um zum Beispiel Evakuierungspläne zu testen", so der Wissenschaftler Mehdi Moussaïd.
Zu Beginn des Unglücks in Seoul teilten die Rettungskräfte mit, sie behandele eine große Zahl von Menschen mit Herzstillstand. Dies kommt bei solchen Massenunglücken häufig vor. Bei den sogenannten Massenpaniken kommt es oft zu Ersticken und Kammerflimmern, was nicht selten zum Tod führt. Bei Kammerflimmern handelt es sich um ein unkontrolliertes, sehr schnelles Zusammenziehen des Herzmuskels, das zu Bewusstlosigkeit und zum Herzstillstand führen kann.
Solche Berichte von angeblichen Herzinfarkten gab es auch bei dem Massenunglück auf dem Astroworld Festival im vergangenen Jahr, wie das Recherchenetzwerk Correctiv berichtete.
Panik nicht Auslöser von "Massenpaniken"
Die häufigste Todesursache ist die "traumatische Asphyxie" – ein drohender Erstickungszustand. Schwere Verletzungen am Brustkorb, verursacht durch das dichte Gedränge oder durch Zertrampeln, können bei dieser Art von Asphyxie (Pulslosigkeit) zu einem Stillstand des Austauschs von Luft und Gas im Körper führen. Durch den Mangel an Sauerstoff können die Opfer ersticken. Es handelt sich dabei aber nicht um einen Herzinfarkt, der durch Ablagerungen in den Herzkranzgefäßen verursacht wird.
Zudem kann es bei Massenunglücken zu Verletzungen an inneren Organen, Knochenbrüchen oder Schädel-Hirn-Traumata kommen.
Auch wenn man in einer beengenden Menschenmasse steckt, wie jüngst in Seoul – eine Panik oder gar Hysterie ist oft nicht der Auslöser. Forschende halten den Begriff "Massenpanik" daher für missverständlich, wie Dirk Helbing, Experte auf dem Gebiet Panikforschung an der ETH Zürich, erklärt.
"Die Katastrophe passiert meist nicht, weil Leute in einen Zustand psychologischer Panik verfallen. Wenn ein solcher Panikzustand auftritt, ist es oft schon zu spät, das heißt, man befindet sich oft schon in einer lebensbedrohlichen Situation. Die Toten sind das Resultat eines physikalischen, nicht eines psychologischen Effekts", sagte er "jetzt.de". Panikforscher sprechen daher lieber von "crowd disaster" oder Massenunglück.

Dichte der Menschen Ursache für solche Unglücke
"Wenn psychologische Angstzustände entstehen, dann als Folge der physikalischen Kräfte, die lebensbedrohlich sein können", erklärt Helbing, der diese Kräfte "crowd turbulences" nennt.
Eine Panik unter den Menschen ist also nicht der Auslöser solcher Katastrophen. Es sind hauptsächlich die Dichte der Menschen. Oft werde angenommen, dass eine Menschenmenge aus irgendeinem Grund in Panik gerät und in eine Richtung drängt, wobei Leute zerquetscht werden, so Helbing. Solche Fälle seien aber sehr selten.
Ein Beispiel dafür, dass Menschen in Notsituationen nicht in Panik verfallen, ist das Feuer im Beverly Hills Supper Club im US-Bundesstaat Kentucky im Jahr 1977. 165 Menschen starben damals. Interviews mit Überlebenden hatten ergeben, dass das Verhalten geordnet und nicht konkurrierend war. Man half sich viel mehr gegenseitig.
Was kann ich bei einem Massenunglück tun?
Wenn Menschen zu eng beieinanderstehen, werden Bewegungen durch die Menge übertragen, erklärt Helbing. Wenn dann jemand stolpert, kann es zu einem Dominoeffekt kommen, bei dem Menschen übereinander fallen und erdrückt werden.
"Die Ursache der meisten Katastrophen mit Menschenmassen ist in der Physik zu suchen und nicht in der Psychologie."
Um solche Katastrophen wie in Seoul zu verhindern, ist ein gutes Sicherheitskonzept sehr wichtig. Es muss zum Beispiel ermöglichen, dass Menschenmassen schnell abfließen können und die Dichte bei engen Stellen reduziert wird.
Wer selbst in eine solche Situation gerät, sollte versuchen, ruhig zu bleiben, rät die Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie Köln. Man sollte versuchen, anderen Menschen in der Situation das Gefühl vermitteln, dass "alles wieder gut wird", aber die Angst dennoch ernst nehmen. Es helfe auch, andere Menschen mit in die Verantwortung zu nehmen, um die Masse zu beruhigen. Langsames und klares Sprechen und sicheres Auftreten vermitteln dabei Sicherheit.
Zudem sollte man sich von festen Hindernissen wie Säulen oder Mauern fernhalten, erklärt Mehdi Moussaïd vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin in einem Interview mit dem "Spiegel". Dort ist das Verletzungsrisiko am größten. Er rät, sich möglichst in der Mitte zu bewegen und: "Immer auf den Beinen bleiben! Wer hinfällt, läuft Gefahr, dass andere, die geschoben werden, ungewollt auf ihn treten und ihn verletzen."