Wenn Oliver Reichert ins Bett geht, beginnt seine Frau meist ihren Arbeitstag. Die zwei Söhne sehen ihren Vater mal beim Frühstück, mal beim Abendbrot oder gar nicht. Wenn das Handy klingelt, weiß die ganze Familie, dass sich der Schichtplan mal wieder von einen Tag auf den anderen ändert. "Das passiert zur Zeit sehr oft", sagt der 42-jährige Lokomotivführer aus Erfurt. Neben dem Stress mit der Familie leidet Oliver Reichert vor allem unter Schlafstörungen - zehn bis elf Nachtschichten im Monat hinterlassen ihre Spuren.
Seit 25 Jahren lebt die Familie nach dem Schichtplan des Vaters. Eine Alternative zum Schichtdienst hat der Lokomotivführer nicht: Güterzüge sind nun mal vorrangig nachts unterwegs. Schicht- und Nachtarbeit hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Ob Ärzte, Polizisten oder Industriearbeiter - nahezu jeder sechste Arbeitnehmer ist nach Angaben des Instituts für Arbeitsmedizin der Universität München in Schichten tätig. Und die Zahl wird weiter steigen, sagt der Arbeitsmediziner Peter Angerer. Branchen passen sich der Globalisierung an. Hotlines sind rund um die Uhr erreichbar. Waren werden nachts transportiert, damit sie am Morgen im Regal stehen.
Krebsrisiko steigt durch Melatoninmangel
Viele Schichtarbeiter werden mit der höheren Bezahlung gelockt. Für die Gesundheit ist dieser berufliche Stress aber verheerend, sagt der Chronobiologe Dieter Kunz von der Berliner Charité. "Schichtarbeit ist vor allem ein Leben gegen den Rhythmus der inneren Uhr." Schichtdienst sei "Sand" im menschlichen Uhrwerk. Für Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Nervosität, vorzeitige Ermüdbarkeit, aber auch Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Verdauungsbeschwerden und Krebs ist ein falscher Lebensrhythmus einer der auslösenden Faktoren, sagt Kunz.
Auch Jahre nach Beendigung der Schichtarbeit sind die Zusammenhänge noch nachweisbar. Eine US-Studie hatte unlängst nachgewiesen, dass Frauen nach 15 Jahren Schichtdienst ein erhöhtes Brustkrebsrisiko haben, weil sie unter Melatoninmangel leiden. Das Hormon wird vom Licht gesteuert. Das Krebsrisiko liegt bis zu 60 Prozent höher als bei Frauen, die nicht im Schichtdienst arbeiten, sagt Arbeitsmediziner Angerer. Ihre männlichen Kollegen haben ein 30 Prozent bis 50 Prozent höheres Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden.
Das Unfallrisiko steigt
Schichtarbeiter schlafen tagsüber unter weit schlechteren Bedingungen als nachts. Es ist wärmer, heller und um bis zu 15 Dezibel lauter. Hinzu kommt die Verschiebung des Schlaf-Aktivitäts-Wechsels. Chronischer Schlafentzug bereitet dem Körper Stress. Nach mehreren Nachtschichten lassen nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) Leistungsbereitschaft, Produktivität, Konzentration und Aufmerksamkeit nach. Das Unfallrisiko steigt.
Große Katastrophen wie in Tschernobyl und auf der Exxon Valdez sind in Nachtschichten passiert. Die Medizin kennt das "Schichtarbeiter-Syndrom". Das ist große Schläfrigkeit in der Schicht und Schlaflosigkeit am Tag. Der Körper versucht, sich an den ungewöhnlichen Zeitablauf anzupassen. Aber jeder freie Tag oder Urlaub wirft ihn in den normalen Tagesablauf zurück - auch Nachtarbeiter können sich nicht aus der Zeitstruktur ihrer Umwelt lösen.
Muntermacher wie Kaffee oder Medikamente wirken nur in der ersten Nacht, sagt der Chronobiologe Kunz. In der nächsten Nacht ist man umso müder. Experimentiert wird auch mit Licht, um das müdigkeitsfördernde Melatonin zu unterdrücken. Doch dauerhaft positive Effekte gibt es auch da noch nicht. Der Arbeitsmediziner Angerer warnt vor den bislang nicht erforschten langfristigen gesundheitlichen Folgen, wenn Licht oder Tabletten die Menschen wach halten sollen.
Heimweg mit Sonnenbrille
Um nach der Schicht schneller einschlafen zu können, empfehlen die Experten, auf dem Heimweg eine Sonnenbrille zu tragen und auf dem schnellsten Weg ins Bett zu gehen. Der Körper sollte nicht zu viel Licht tanken. Die Betreuung der Schichtarbeiter durch Betriebsärzte ist nach den Worten des Arbeitsmediziners in großen Unternehmen "klasse", aber in kleinen Firmen "lausig". Alle drei Jahre sollte ein Schichtarbeiter auf mögliche Gesundheitsschäden untersucht werden, ältere Kollegen jedes Jahr. Ideal wären außerdem Ernährungs- und Bewegungsberatungen sowie Angebote zur Stressbewältigung.
Um die Schichtarbeit so verträglich wie möglich zu machen, empfiehlt die DGAUM, maximal drei Nachtschichten hintereinander zu arbeiten, stets von der Früh-, in die Spät- und dann in die Nachtschicht zu wechseln und für längere Erholungszeiten zu sorgen. Vor allem aber sollten Schichtpläne langfristig aufgestellt werden, damit das Familienleben danach geplant werden kann.