"Deutsches Haus"-Serie Drehbuchautorin Annette Hess über Antisemitismus: "Diese Aktualität hat uns erstmal erschreckt"

Die Disney-Serie "Deutsches Haus" erzählt vom großen Frankfurter Prozess gegen SS-Mörder, der den Deutschen vor 60 Jahren das Grauen der Shoah vor Augen geführt hat. Drehbuchautorin Annette Hess über den Versuch, das Grauen mit viel Zärtlichkeit darzustellen.

Warum steht die deutsche Wirtsfamilie Bruhns im Mittelpunkt Ihrer Serie über den Auschwitz-Prozess – hätten Sie nicht die jüdischen Opfer ins Zentrum rücken müssen?
Zum Glück gibt es keine Verpflichtungen zu einer bestimmten Erzählperspektive. Ich stamme aus einer deutschen Familie, bin Täterenkelin – nur darüber kann ich authentisch erzählen. Die Hauptfigur der Eva Bruhns, einer Dolmetscherin im Prozess, ist ein wenig meiner Mutter, Jahrgang 1942, nachempfunden, die in den 60er Jahren ausschließlich damit beschäftigt war, einen Mann zu finden, der möglichst mal Doktor oder Professor werden würde. Der Auschwitz-Prozess ist erstmal komplett an ihr vorbeigegangen. Ich habe dann miterlebt, wie bei meiner Mutter das Bewusstsein für die Verbrechen der Deutschen gewachsen ist.

Wie zeigte sich das?
Wir haben zum Beispiel einmal die Gedenkstätte Bergen-Belsen besucht, ich war zwölf, da konnte meine Mutter nur zehn Meter weit gehen und musste dann umkehren, weil sie so geweint hat. Auch die Serie "Holocaust" hat sie sehr betroffen gemacht. Das ist bei ihr eine Entwicklung über Jahre gewesen, die bei Eva Bruhns, der Filmfigur, komprimierter abläuft. 

In der Serie gibt es eine Szene aus der Küche des Restaurants der Familie Bruhns, in dem die Küchenhilfe sagt: ,Ich will von dem Prozess gegen die SS-Männer nichts hören, mein Mann ist im Osten gefallen, und das ist das Schlimmste.' Ist das die Haltung, gegen die sich die Serie richtet?
Exakt. In solchen Phrasen drückt sich ja das Verdrängen dieser unfassbaren Verbrechen aus. Es wird relativiert und heruntergespielt. Da wird dann gesagt: ,Manche haben eben Pech gehabt.‘ Oder: ,Wir hatten es auch schwer.' ,Es war Krieg.‘ Um diese Haltung geht es in der Serie.

Kann Gleichgültigkeit eine Ausdrucksform von Antisemitismus sein?
Auf jeden Fall spielt es dem Antisemitismus in die Hand, sich einfach rauszuhalten und zu schweigen. Ich glaube: Man kann nicht unpolitisch leben. Wenn man nichts gegen Rassismus und Unrecht sagt und tut, ist das auch ein Statement, es hat die Wirkung einer stillen Zustimmung. Mitläufer und Mittäter – das liegt viel näher beieinander, als man denkt. 

Können Sie das Verhalten derer verstehen, die geschwiegen und verdrängt haben?
Die meisten Menschen ducken sich lieber weg, als Zivilcourage zu zeigen. Das ist menschlich. Und die Bundesrepublik konnte nach dem Krieg nur mit Verdrängung neu aufgebaut werden. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum die Angeklagten sich – bis auf einen – nicht schuldig bekannt haben. Vielleicht ist es unmöglich einzugestehen, dass man für den Tod von Tausenden Menschen verantwortlich ist. Wie soll man mit dieser Schuld leben?

Im Prozess wurde vor 60 Jahren nicht die Shoah als Ganzes betrachtet, sondern es mussten einzelnen Tätern einzelne Taten nachgewiesen werden. Diese Individualisierung macht es natürlich sehr emotional – aber besteht nicht zugleich die Gefahr, dass die Dimension des Verbrechens aus dem Blick gerät?
Reine Zahlen bleiben abstrakt, Millionen Tote – das kann man sich nicht vorstellen. Deshalb muss man Namen sagen, die Einzelschicksale hervorheben. Ich habe lange an der Anklageverlesung gearbeitet: Ich habe aus den originalen 800 Seiten einen Text montiert, der die ungeheure Menge an Verbrechen benennt, aber auch immer wieder einzelne Namen und Schicksale heraushebt. Nur das erzeugt Emotionen, Empathie und vielleicht eine Ahnung von dieser Hölle.

Aber vor Gericht verhandelt wurde eben nicht, ob das Konzentrationslager Auschwitz von einer Mörderbande betrieben wurde, die gemeinsam getötet hat – egal, wer nun unmittelbar welchen Beitrag geleistet hat.
Der Prozess konnte nur mit den juristischen Mitteln dieser Jahre geführt werden. Wie Sie schon gesagt haben: Die Angeklagten mussten konkreter Taten überführt werden. Man musste den Namen des Opfers haben, den des Täters, dazu einen Zeugen, der es gesehen hat. Am besten zwei. Die strafrechtliche Aufarbeitung ist deshalb völlig unzureichend gewesen. Aber trotzdem ist es gelungen, durch den Prozess den Deutschen zu erzählen, was in diesem Konzentrationslager geschehen ist. Zu Prozessbeginn waren 70 Prozent der Deutschen gegen das Verfahren. Am Ende wurden aus der Bevölkerung Todesstrafen gefordert. Danach konnte keiner mehr sagen, er habe noch nie von Auschwitz gehört.

Nun schauen wir in diesen Wochen alle nach Israel und Gaza, auf den Terror der Hamas und auf die Antwort Israels. Kann ihr Film dazu beitragen, diesen Konflikt zu verstehen?
Ich denke schon, dass die Vergegenwärtigung des Holocaust Verständnis dafür erwecken kann, dass Deutschland in diesem Konflikt eine Sonderrolle hat. Ich bin Enkelin eines Täters, mein Großvater war Polizist in Polen. Und da kann ich gar nicht anders, als mich an allererster Stelle massiv gegen jede Form von Antisemitismus zu wenden. Das mache ich auch mit dieser Serie. Es erschreckt mich unendlich, dass Juden in Deutschland wieder Angst haben. Das berührt mich an erster Stelle. 

Stimmen Sie dem Argument zu, dass die Enkel der Täter den Enkeln der Überlebenden nicht zu sagen haben, was die für ihre Sicherheit tun dürfen und was nicht?
Natürlich können wir den Opferenkeln nicht vorschreiben, welche Mittel ihrer Verteidigung angemessen sind. Gleichzeitig sind wir uns, glaube ich, alle einig, dass Gewalt gegen Zivilisten allgemein ein Verbrechen ist. Mich schreckt Gewalt in jeder Form. Ich bin überzeugte Pazifistin. Mir ist allerdings bewusst, dass ich das aus einer komfortablen, privilegierten Lage heraus empfinde.

Auf Demonstrationen waren Schilder zu sehen, die ein freies Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer forderten – und damit die Vernichtung Israels. Ihr Film wirkt da wie ein Kommentar zu den Nachrichten?
Diese Aktualität hat uns erstmal erschreckt. Natürlich kommt die Serie zu einer besonderen Zeit. Aber ich fände es geradezu obszön, damit jetzt Werbung zu machen. Unsere erste Überschrift, als wir mit der Arbeit an der Serie begonnen haben, war immer: Zärtlichkeit. Wir erzählen mit Vorsicht und Zärtlichkeit vom Grauen. Dieses entsteht ausschließlich durch die Schilderungen der Zeuginnen und Zeugen – im Kopf der Zuschauenden. In der Serie erzählen wir übergeordnet davon, wohin Rassismus, Ausgrenzung und Antisemitismus in nur zwölf Jahren führen können. 

Sie haben in Polen gedreht, nicht weit von Auschwitz entfernt.
In Krakau und Kattowitz. Die Gedenkstätte ist eine gute Stunde entfernt, Cast und Crew sind alle hingefahren. Ein Großteil der Crew war polnisch. Darunter befanden sich auch EnkelInnen von Opfern. Wir haben einige sehr berührende Gespräche geführt und ich bin dankbar, dass wir die Serie gemeinsam drehen konnten.

In der Wirtsfamilie Bruhns, deren "Deutsches Haus" der Serie den Namen gegeben hat, verdichten Sie eine Vielzahl deutscher Schicksale. Selbst der kleine Junge muss permanent Krieg spielen. Auf mich hat das etwas gewollt gewirkt. 
Wenn Sie bei einer beliebigen Familie genauer hinducken, werden sie all das finden. Selbstverständlich ist das verdichtet, es geht aber auch um fünf Stunden Erzählzeit. Und es ist auch Unterhaltung, da muss man dramatisieren – sonst schläft man ja ein. Der Zug muss auch ordentlich Zug haben, damit man einsteigt und gerne mitfährt.

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