"Lebenslauf der Liebe" Kaffee, Kuchen, Calvados und ein Philosoph

In Marin Walsers neuem Roman gibt es ein Wiedersehen mit dem "Privatgelehrten" Gottlieb Zürn. Der schlittert in eine außereheliche Affäre und begeistert sich für materialistische Philosophie.

Nach dem "Lebenslauf der Liebe" legt Martin Walser in diesen Tagen seinen neuen Roman "Der Augenblick der Liebe" vor. Doch trotz der Ähnlichkeit und der scheinbaren Kontinuität der Titel: Beide Texte haben nichts gemein, nicht einmal mehr den Verlagsnamen auf dem Umschlag.

Walsers neuer Roman ist der erste, den er nach dem Bruch mit seinem jahrzehntelangen Verlag Suhrkamp in Frankfurt bei Rowohlt in Reinbek veröffentlicht. Während in dem 2001 erschienenen Werk die Düsseldorfer Neureichen-Gattin Susi Gern ein Leben lang ums Glücksichsein kämpft, stehen nun die flüchtigen Momente des Glücks im Vordergrund. Der diese Sekunden der größten Erfüllung erlebt, ist ein guter Bekannter aus früheren Walser-Romanen wie "Das Schwanenhaus" (1982) oder "Jagd" (1990): Gottlieb Zürn, Ex-Immobilienmakler mit intellektuellem Anspruch und Domizil am Bodensee, an dem auch der Autor sein Leben verbringt.

Es funkt gewaltig

Eines Tages erhält der "Privatgelehrte" Zürn nachmittäglichen Besuch von einer in Amerika arbeitenden deutschen Doktorandin, die sich für seine Aufsätze über den französischen Philosophen La Mettrie (1709-1751) interessiert. Bei Kaffee, Kuchen und Calvados, von Zürns langjähriger Ehefrau Anna auf der Terrasse serviert, funkt es gewaltig zwischen dem alternden Hobby-Philosophen und der 40 Jahre jüngeren Beate Gutbrod, die über die Rezeption des verfemten Denkers des 18. Jahrhunderts in Deutschland promovieren will.

Überstürzter Aufbruch

Die außereheliche Liebesgeschichte nimmt heimlich ihren Lauf. Zunächst jedoch nur aus der Ferne. Monatelang schreiben sich die Liebenden sehnsuchtsvolle Briefe oder hängen Stunden am Telefon, um sich Alltägliches ebenso wie ihre Träume zu erzählen. Dann naht die Stunde des Wiedersehens: Zürn wird anlässlich des 250. Todestags von La Mettrie als Gastredner an Beates Institut in Kalifornien eingeladen. Doch der Vortrag wird zum Fiasko. Zürn will nur weg von der Geliebten und kehrt überstürzt zurück an den heimischen Herd.

Klischees vom älteren Mann

Den magischen "Augenblick der Liebe", den Zürn mit beiden Frauen erlebt, erzählt der preisgekrönte 77-jährige Autor mit gewohnter Sprachkunst. Seine Meisterschaft lässt darüber hinwegsehen, dass er sich des Klischees vom älteren Mann bedient, der sich eine junge Geliebte zulegt, um seine Angst vor dem Alter zu betäuben. Die Verlogenheit der Gesellschaft im Umgang mit dem Alter sei für ihn ein entscheidendes Motiv gewesen, sagte Walser unlängst in einem Interview. "Es gibt wenig, über das wir so viel Kulturtünche schmieren wie über die Entsetzlichkeiten des Alterns. Da wird alles zugeschmiert mit Würde und Lächeln."

Einfühlsam, schonungslos und mitunter auch ziemlich weitschweifig zeichnet er die Seelenlage seines Helden nach, der letztlich den Ehealltag dem Abenteuer vorzieht: "Die Ehe ist sicher eine Hölle, aber als Teufel mit einem Engel verheiratet zu sein, ist durchaus erträglich."

Zürn mausert sich zum ambitionierten Denker

Doch der Roman geht weit über Alltagsbefindlichkeiten hinaus. Vielmehr lässt Walser seinen Titelhelden ausführlich seine Lebensphilosphie darlegen, mit den Thesen des Chemie-Nobelpreisträgers Manfred Eigen verknüpfen und damit voraussichtlich Stoff für neue Aufregung liefern. Denn Alt-Makler Zürn, in Walsers früheren Werken schon ein heimlicher Verseschmied, im übrigen aber mit seinen beruflichen Konkurrenten, familiärem Chaos sowie kleinen Seitensprüngen beschäftigt, mausert sich dieses Mal zum ambitionierten Denker.

Sympathier für La Mettrie

Angetan hat es ihm der Verfechter des mechanistischen Materialismus, Julien Offray de La Mettrie, der von seinen Zeitgenossen aufs Schärfste angefeindet wurde. Zürn aber empfindet die Ansicht des Außenseiters, dass es im Universum nur eine Materie und daher keine Teilung in Geist, Körper und Seele gibt, als Befreiung. In seinem Vortrag spricht er davon, dass La Mettrie eine Art Kritik des schlechten Gewissens geschrieben habe.

Die amerikanischen Intellektuellen jedoch sehen in diesen Gedanken aus dem Mund eines Deutschen eine ungeheure Provokation. Sie meinen, er wolle sich mit einem philosophischen Trick vom historisch schlechten Gewissen befreien. Der Romanheld hatte sich in einem Land geglaubt, in dem die Freiheit des Geistes herrscht, und muss nun die Erfahrung machen, "dass ein Deutscher immer zuerst ein Deutscher ist und erst dann ein Mensch."

Gisela Mackensen, DPA

Martin Walser: Der Augenblick der Liebe
Rowohlt, Reinbek
253 Seiten, 19,90 Euro