Das Wort des Herren Nazis rein! Islamisten raus!

  • von Stephan Anpalagan
Stephan Anpalagan ist neuer Kolumnist des stern
Stephan Anpalagan ist neuer Kolumnist des stern
© Collage: stern; Foto: Boris Breuer / dpa / Picture Alliance
Das Bundeskabinett hat sich auf einen Gesetzentwurf geeinigt, der Islamisten, die terroristische Anschläge billigen, mit der Ausweisung bestraft. Dabei werden Bundesbürger ohne doppelte Staatsangehörigkeit nirgendwohin abgeschoben werden – eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung.

"Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten." - III. Mose 19, 34

Der vielleicht klügste Gedanke in diesem ganzen Schlamassel stammt von meinem Freund Jan Fleischhauer

Richtig gelesen. Jan Fleischhauer. Der Journalist und Autor, dessen Kolumne als "schwarzer Kanal" überschrieben ist und in dessen Texten es auffallend häufig darum geht, was bei den Grünen und Linken alles falsch läuft.

Besagter Jan Fleischhauer jedenfalls veröffentlichte vor fünf Jahren eine viel beachtete Kolumne im "Spiegel". Sie war pointiert, provokant und plakativ, aber auch polemisch und grenzüberschreitend. Die Kolumne hieß "Nazis rein". Wer so einen Titel formuliert, strebt üblicherweise keine Karriere im diplomatischen Dienst an, sondern will die dahinplätschernde mediale Debatte mit einem Presslufthammer vitalisieren. Der Aufschrei war groß. Und erwartungsgemäß haben die meisten seiner Kritiker den Text wahlweise nicht gelesen oder nicht verstanden. Das ist auch ein halbes Jahrzehnt später noch bedauerlich, weil der Kommentar außerordentlich gut war. 

Stephan Anpalagan ist Theologe, Autor und Musiker. Für dem stern schreibt er die Kolumne "Das Wort des Herren". Diese Woche: Wie sollen Staat und Gesellschaft mit deutschen Islamisten umgehen?
© Boris Breuer

Zur Person

Stephan Anpalagan, geboren 1984 in Sri Lanka und aufgewachsen in Wuppertal, ist Diplom-Theologe, Autor und Musiker. Nachdem er zehn Jahre in der Wirtschaft als Manager tätig war, ist er nun Geschäftsführer einer gemeinnützigen Strategieberatung und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in NRW. In seinen Texten verhandelt er die Themen Heimat und Identität.

Zusammengefasst heißt es darin, dass kein Mensch so schlecht ist, dass er nicht Anspruch auf einen Platz in unserer Gesellschaft hat. Dass Menschen für ihre Taten bestraft und anschließend resozialisiert werden müssen. Dass die Parole "Nazis raus" ins Leere läuft, solange nicht klar ist, woraus und wohin sie denn sollen. Dass selbst die Alliierten den größten Teil der Nazis, die sie zuvor unter hohen Verlusten bekämpft und besiegt hatten, entnazifiziert und wieder in die Gesellschaft eingegliedert haben. Dass "Nazis raus" zwar keine schlechte, aber auch keine sonderlich hilfreiche Forderung ist, um auf den Zustand unserer Welt zu reagieren.

Wie gesagt, ein kluger Text.

Rechtsextreme und Neonazis bekämpft man nicht nur, indem man sie mit der Härte des Rechtsstaats verfolgt, ihre Strukturen zerschlägt, den zivilgesellschaftlichen Antifaschismus stärkt und jeden einzelnen Kameraden zur Verantwortung zieht. Man bekämpft sie auch mit kruppstahlharter inhaltlicher Auseinandersetzung, mit Aussteigerprogrammen, mit Resozialisierung, mit Prävention und politischer Bildung, damit Nazis aufhören Nazis zu sein. Und damit ihre Ideologie nicht in die Mitte der Gesellschaft vordringt. Unabhängig davon, wie man zu den einzelnen Maßnahmen steht, kann man eines nicht tun: Das Problem in die Zukunft oder ins Ausland verlagern. Es sind unsere Nazis. Wir müssen selbst mit ihnen fertig werden.

Von Clankriminellen und Cowboyhüten

Und mit diesen Worten begrüße ich Sie ganz herzlich zur politischen Auseinandersetzung mit dem Islamismus in Deutschland.

Während der Umgang mit Neonazis und Rechtsextremen die gesamte Palette gesellschaftlicher Handhabe erfordert, genügen in der politischen Auseinandersetzung mit Islamisten und "Clan-Kriminellen" zwei einfache, dafür aber öffentlichkeitswirksame Maßnahmen: Ausbürgern und Abschieben.

Im August des Jahres 2023 legen die Innenminister der CDU ein Papier vor, um die aus ihrer Sicht grassierende "Clan-Kriminalität" zu bekämpfen. Nun ist dem deutschen Strafrecht die Kategorie "Clan" völlig unbekannt, die Sippenhaft lange abgeschafft und das niedersächsische LKA, das mit großem Engagement die "Clan-Kriminalität" bekämpft, muss Lagebericht um Lagebericht feststellen, dass "Clanstrukturen […] bei Betrachtung des Gesamtvolumens krimineller Handlungen in absoluten Zahlen kaum ins Gewicht fallen".

Das alles aber hielt die CDU-Innenexperten nicht davon ab, ein Papier zu formulieren, in dem es heißt, dass bei ausländischen "kriminellen [Clan-]Mitgliedern sämtliche möglichen ausländerrechtlichen Maßnahmen mit dem Ziel der Ausweisung und Abschiebung anzuwenden" seien. Und dass zu prüfen wäre, ob bei "Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit, die an Organisierter Kriminalität nachweisbar mitwirken, die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen werden kann." Man möchte also, um dies einmal in aller Deutlichkeit festzustellen, deutsche Staatsangehörige ausbürgern. Nicht alle. Nicht einmal alle mit doppelter Staatsbürgerschaft. Nur solche, die die christdemokratische Wählerschaft mit dem Begriff "Clan" in Verbindung bringt. Es ist ein Positionspapier, nach dessen Lektüre man den unweigerlichen Drang verspürt, einen Cowboyhut aufzusetzen und den Colt nachzuladen. Ich jedenfalls bin froh, dass die konservativen Innenminister diesen Plan erst im Jahr 2023 und nicht bereits im Jahr 2003 veröffentlicht haben. Andernfalls wäre es durchaus möglich gewesen, dass übereifrige Ausländerbehörden die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, die im Laufe der Ermittlungen als Terror-Verdächtige ins Visier der Polizei geraten sind, ausgebürgert, ausgewiesen und abgeschoben hätten.

Wohin soll man deutsche Islamisten abschieben?

Im Juni des Jahres 2024 einigt sich das Bundeskabinett auf einen Gesetzentwurf, der die Billigung eines terroristischen Anschlags mit der Ausweisung aus Deutschland bestraft. Als Billigung zählt bereits ein "Gefällt mir" oder ein Kommentar im digitalen Raum. "Eine strafrechtliche Verurteilung muss […] nicht erfolgen" heißt es im Wortlaut. Die Bundesinnenministerin will mit dem Gesetz "hart gegen islamistische Hasskriminalität" vorgehen und führt als Beispiel den Terror der Hamas gegen Israel an. Ich habe großes Verständnis für den Kampf gegen den antisemitischen Schund im Internet. Gleichzeitig frage ich mich, wohin man all die Manfreds abschieben will, die in den sozialen Medien den russischen Terror in der Ukraine bejubeln. Aber um die geht es natürlich nicht.

In seiner Regierungserklärung – ebenfalls im Juni des Jahres 2024 – befasst sich der Bundeskanzler höchstselbst mit der Islamismus-Bekämpfung. Er erklärt, Straftäter auch dann abschieben zu wollen, wenn sie aus Syrien oder Afghanistan stammen. Das passt in die bisherige Linie von Bundesregierung und Opposition im Umgang mit Islamisten, führt meines Erachtens aber zu einigen Komplikationen. 

Zum einen ist es laut wissenschaftlichem Dienst des Bundestages juristisch überhaupt nicht möglich, Menschen in ein Bürgerkriegsland oder ins Taliban-Regime abzuschieben, wenn ihnen dort Folter und Todesurteil drohen. Dem stehen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention, die Anti-Folterkonvention und die gefestigte Rechtsprechung des EGMR entgegen. Man muss nicht, wie unsere Außenministerin, "aus dem Völkerrecht kommen", um festzustellen, dass die Bundesrepublik ethisch, moralisch und rechtlich ziemlich nahe an Nordkorea heranrückt, wenn sie ihre Bindung an all diese völkerrechtlichen Statute ignorieren und Menschen in die Gewalt der Taliban übergeben würde. 

Ein florierendes Geschäft für die Taliban?

Zum anderen müsste man die Taliban, das Assad-Regime und möglicherweise eine ganze Reihe weiterer zwielichtiger Gestalten diplomatisch aufwerten und trotz Schuldenbremse (hier bitte das Stirnrunzeln von Christian Lindner einsetzen) mit vielen Millionen Euros unterstützen. Darüber hinaus befürchte ich, dass die Taliban das richtige "Mindset" entwickeln könnten, um aus dieser Gemengelage ein florierendes Geschäft zu machen und dafür zu sorgen, dass messerstechende Landsleute im europäischen Ausland die diplomatische Aufwertung des afghanischen Regimes festigen und die daraus folgenden millionenschweren politischen Deals sichern. Vielleicht lesen die Taliban-Juristen dazu auch einfach den Wikipedia-Artikel zum "Häftlingsfreikauf" in der DDR. Da steht alles drin, was man dafür braucht.

Dass Ausländer nach der Begehung einer schweren Straftat abgeschoben werden, halte ich grundsätzlich für sinnvoll. Wo dieser Staat Schutz und Zuflucht gewährt, kann er Wohlverhalten erwarten. Wer gegen fundamentale Werte und Normen verstößt, muss damit rechnen, dass er dieses Land verlassen muss. Dies allerdings ist in einigen Fällen schlichtweg nicht möglich. Wo Abschiebehindernisse vorliegen, wo Leib und Leben der Abzuschiebenden bedroht sind, kann die Bundesrepublik nicht Menschenrechte übertreten und ihre demokratischen Grundwerte aufgeben. Davon abgesehen bleibt die Frage offen, was mit deutschen Islamisten ohne doppelte Staatsangehörigkeit geschehen soll. Der Islamist Sascha L. aus dem niedersächsischen Northeim beispielsweise war einige Jahre vor seiner Islamisten-Laufbahn noch erfolgreicher Neonazi. Mir fehlt schlichtweg die Phantasie, wohin man den abschieben sollte.

Was eigentlich hinter dem Abschiebe-Ruf steckt

Der ständige Ruf nach Abschiebung offenbart vor allem einen eklatanten Mangel an Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden, unsere Justiz und unseren Rechtsstaat. Oder entspricht er dem unausgesprochenen Wunsch, fremde Straftäter einer viel härteren, mit unseren demokratischen Prinzipien nicht zu vereinbarenden menschenfeindlichen Strafe zuzuführen?

Was bleibt eigentlich für Terrorismusprävention, Aussteigerprogramme und Resozialisierung übrig, wenn alles Geld, das uns im Kampf gegen Islamisten zur Verfügung steht, in Ausweisung und Abschiebung fließt? Wie soll die Wiedereingliederung von Islamisten in unsere Gesellschaft aussehen? Und weil ich den Widerspruch bereits absehen kann, noch einmal: Deutsche Islamisten werden nirgendwohin abgeschoben werden. Sie sind Teil unserer Gesellschaft und damit eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Dabei ist völlig wumpe, ob sie nur die deutsche oder auch noch andere Staatsbürgerschaften haben. Auch hier können wir das Problem weder in die Zukunft noch ins Ausland verlagern.

Vielleicht einmal ganz grundsätzlich gefragt: Warum verfahren wir mit Islamisten nicht genauso wie mit Nazis? Warum fordern wir im Umgang mit Nazis Versöhnung und im Umgang mit Islamisten Rache? Warum ist im Land der Shoah eine Kolumne mit dem Titel "Nazis rein" möglich, aber ein Äquivalent mit dem Titel "Islamisten rein" undenkbar?

In Fleischhauers "Nazis rein"-Kolumne steht der wichtigste Satz zu Beginn. Aber eigentlich wäre er am Ende besser aufgehoben gewesen: "Kein Mensch ist so schlecht, dass er nicht Anspruch auf einen Platz in der Gesellschaft hätte." Amen dazu.

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