Wenn drei befreundete Paare sich zur Dinner-Party in gestyltem Schöner-Wohnen-Ambiente treffen, muss man mit allem rechnen. Hätten nicht Benimm-Päpste zum Gelingen eines solchen Abends Gesetze erlassen: Man bewundere also das Designer-Inventar, lobe die Kochkünste der Gastgeber und spreche, auch wenn man sich wie eine abgetretene Fußmatte fühlt, nur über die unverfänglichen Dinge des Lebens. Das Servieren zermürbender Wahrheiten und die Enthüllungen privater Krisen sind bei solchen Tafelrunden normalerweise igitt.
Dieses Tabu hat Doris Dörrie jetzt gebrochen: Die Münchner Regisseurin hat ein Abendessen angerichtet, bei dem neben der gebratenen Ente das Eingemachte auf den Tisch kommt - Einsichten und Ansichten über Freundschaft und Liebe, Sehnsucht und Selbstbetrug, Glück und Verlogenheit. »Nackt« heißt das Psycho-Kammerspiel, bei dem der Zuschauer quasi mit am Tisch sitzt - als stummer Zeuge eines ebenso amüsanten wie tiefgründigen Seelen-Striptease.
Der Film geht, neben Winfried Bonengels Neonazi-Geschichte »Führer Ex« und zwei Koproduktionen, als weiterer deutscher Beitrag in den diesjährigen Wettbewerb um den Goldenen Löwen in Venedig. »Klar freue ich mich riesig darüber«, sagt die Regisseurin - schon die Teilnahme an den jetzt beginnenden 59. Filmfestspielen ist ein Erfolg, nachdem in Cannes wieder einmal kein einziges Werk aus Deutschland in die Auswahl kam. Über einen möglichen Preis will Doris Dörrie aber nicht spekulieren, »ich rechne nie mit irgendwas«.
Ihren mit Dialogen gespickten Film sieht sie als Experiment, »denn mich stört oft an Drehbüchern, dass man ein Thema eigentlich immer nur kurz anschneiden kann, und - zack! - schon ist man wieder weg. Nur nicht zu gewichtig werden, nur nicht zu viel Text. Jetzt habe ich versucht, Leuten so lange Gelegenheit zu geben, laut über sich nachzudenken, bis sie zum Kern der Dinge vorstoßen. Sie müssen Wörter finden für das, was sie bewegt. Jeder kennt doch das Gefühl, dass man Schlangenlinien läuft bei der schwierigen Prozedur, genau das auszudrücken, was man meint.«
Dass der Paarlauf nicht zur anderthalbstündigen Quasselrunde verkommt, liegt nicht nur am intelligenten Drehbuch, sondern auch an der Besetzung. Drei Männer, drei Frauen, sechs Hauptrollen: Heike Makatsch und Benno Fürmann als Ex-Paar Emilia und Felix, Alexandra Maria Lara und Jürgen Vogel als verliebte Turteltäubchen Annette und Boris, Nina Hoss und Mehmet Kurtulus als frustriertes Duo Charlotte und Dylan. Drei Paare in den verschiedenen Aggregatzuständen der Liebe: erkaltet, heiß und lauwarm. Und alle jagen sie existenziellen Fragen nach: Was ist das Glück? Wie fühlt sich die Liebe an? Wie sehen mich die anderen? Wer bin ich wirklich?
Der Abend gipfelt in einem pikanten Blindekuh-Spiel. Emilia wettet, die meisten Männer würden mit verbundenen Augen nicht einmal den Körper ihrer eigenen Frau erkennen. Dylan und Boris protestieren heftig und treten schließlich mit ihren Partnerinnen zum Gegenbeweis an. Das Experiment endet als Verwirrspiel. Und die Voyeure im Kinosaal werden sich vielleicht an den Satz des »Kleinen Prinzen« erinnern: Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Die Vorlage für den Film lieferte Doris Dörrie mit ihrem Drama »Happy« selbst. »Eines der besten Drehbücher, die ich je gelesen habe«, schwärmt Benno Fürmann, »dabei spiele ich normalerweise lieber Rollen, wo ich nicht so viel reden muss. Wir alle haben uns richtig reingeschmissen in die Arbeit - wenn die Buchstaben von der Seite abheben und so eine Eigendynamik bekommen, das macht wahnsinnig viel Spaß.« Im wahren Leben wäre der Schauspieler allerdings nach vier Minuten weg gewesen - »danke und tschüs. Mit solchen Psycho-Abenden kannst du mich jagen.«
Auch mit Doris Dörrie ist nicht leicht ins Gespräch zu kommen. Sie wirkt verschlossen, vorsichtig, verletzlich. Eine sympathisch-spröde Person, die nicht gern fotografiert werden, nicht im Zentrum der Beobachtung stehen will. Alles Signale: Rück mir bloß nicht zu sehr auf die Pelle. Es dauert immer eine Weile, bis sie Fragen nicht mehr nur abwehrt, bis sie die Sonnenbrille abnimmt und, manchmal sogar mit einem Lächeln, zu erzählen beginnt.
»Die Suche nach dem Glück«, sinniert die 47-Jährige, »ist seit Jahren schon mein Thema. Weshalb sich Paare finden, weshalb es klappt - oder auch nicht -, das finde ich hochinteressant. Wir sind immer abhängiger geworden von der Vorstellung, dass das Glück in diesen Konfigurationen liegt, machen uns immer mehr Stress und verlieren uns darüber selbst. Heute werden Verbindungen ja nicht mehr zwangsweise geschlossen, wir haben die freie Wahl - und sind damit komplett überfordert.«
Die Ratlosigkeit in ihrem Blick spricht Bände. Hier sitzt eine Frau, die nicht vorgibt, auf jede Frage eine Antwort zu haben. Aber sie drückt sich nicht davor, Fragen zu stellen. Was machen wir jetzt? Wie findet man nach dem Verlust eines geliebten Menschen zurück ins Leben? Das ist auch Thema ihres gerade erschienenen Romans »Das blaue Kleid«. Der schwule Boutiquenbesitzer Florian hat seinen Freund durch Krebs verloren, die Grafikerin Babette ihren Ehemann durch einen Autounfall. Wie und wen soll man jetzt noch lieben?
Ein therapeutisches und zugleich amüsantes Buch, in dem die Leidensgenossen am Ende eines begreifen: Der Tod lässt sich am besten bannen, wenn man ihm ins Gesicht lacht, ihn feiert wie die Mexikaner - als schmerzlich-fröhliche Gaudi mit Skeletten aus Zuckerguss. Vor sechs Jahren verlor Doris Dörrie ihren Mann an den Krebs, wurde alleinerziehende Mutter ihrer heute zwölfjährigen Tochter. Ihr Roman lässt sich auch als Bekenntnis lesen: Lebe jetzt, liebe jetzt, pack das Leben beim Schopf - der Tod kommt sowieso. Eine Binsenweisheit? Mag sein. Wahr ist sie trotzdem.
Genau das ist die Kunst der Doris Dörrie: Sie besitzt einen durch Lebensklugheit geschärften Blick auf das Komische und Tragische im Menschenzoo. So schafft sie es immer wieder, selbst Banales zum Thema zu machen, ohne dass es in Pathos und Peinlichkeit ersäuft. Her mit dem Kitsch, her mit den Klischees, die auch dem Homo sapiens des 21. Jahrhunderts noch immer die Sinne vernebeln. Geld allein macht nicht glücklich? Die Liebe ist ein seltsames Spiel? Singles haben's auch nicht besser? Klar doch, wissen wir. Aber es kommt eben immer darauf an, mit wie viel Esprit und Sensibilität diese ewig gleichen Gefühle beschrieben werden.
Der kommende Herbst wird für das Multitalent Doris Dörrie wohl der erfolgreichste ihrer bisherigen Karriere: »Nackt« kommt am 19. September in die Kinos, »Das blaue Kleid« steht bereits in den Bestsellerlisten, ihr fünftes Kinderbuch »Mimi« erscheint Ende September, und in der Berliner Staatsoper Unter den Linden wird gerade fürs Fernsehen und die internationale DVD-Vermarktung ihre Inszenierung der Mozart-Oper »Così fan tutte« aufgezeichnet. »Meine Produktion«, erzählt sie strahlend, »ist die erfolgreichste seit der Wiedervereinigung. Mit 98 Prozent Auslastung, das hat es an dem Haus noch nie gegeben.« Und weil's so schön war, übernimmt sie jetzt auch noch die Inszenierung von Puccinis »Turandot«. Premiere: nächstes Jahr.
Sie wird wieder so arbeiten, wie sie es immer macht. Auf der Probebühne oder am Drehort herrscht stets eine Art Klassenfahrt-Atmosphäre. Doris Dörrie will, gemeinsam mit ihren Sängern und Schauspielern, hemmungslos herumspinnen können, Sachen ausprobieren, sie wieder verwerfen. Man muss, sagt sie, den Mut haben, sich zum Narren zu machen. Jedenfalls, wenn es um das wahre Leben geht: um Liebe, Schmerz und das ganze verdammte Zeug.
Irmgard Hochreither