Die provokante Kunstaktion blieb bis zuletzt geheim: Eine Synagoge bei Köln wurde am Sonntag zur "Gaskammer". Der international bekannte Künstler Santiago Sierra leitete die hochgiftigen Abgase aus den Auspuffrohren von sechs Autos in das frühere jüdische Bethaus von Pulheim-Stommeln. Mit seiner Arbeit wolle er "gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust" angehen, erklärte der 39-Jährige Spanier in einer schriftlichen Stellungnahme zu Beginn seines Projektes "245 Kubikmeter". Als "Beleidigung der Opfer" kritisierte der Zentralrat der Juden in Berlin die Aktion. Er frage sich, warum die Ermordeten des Holocaust und nicht die Täter derart provoziert würden, sagte Zentralrats-Generalsekretär Stephan J. Kramer.
Warteschlangen vor der Synagoge
Schon unmittelbar nach Beginn der Aktion, der der Künstler bewusst fern geblieben war, bildete sich eine Warteschlange vor der ehemaligen Synagoge. Viele Besucher wollten mit Atemschutzmaske und in Begleitung eines Feuerwehrmannes einzeln für wenige Minuten den Raum mit seiner lebensgefährlichen Konzentration an Kohlenmonoxid betreten.
"Warst Du schon drin?", lautete die oft gehörte banale Frage unter den Wartenden. Die Anmeldeliste für die "Gaskammer" an diesem Sonntag war rasch "ausgebucht". Bis zum 30. April soll jeweils sonntags von 11.00 bis 17.00 die Aktion erneut stattfinden, nur Ostersonntag ist Pause.
Sierras früherer Professor an der Hamburger Kunsthochschule, Bernhard Johannes Blume, äußerte sich vor der Synagogentür skeptisch: "Um an die Gaskammern erinnert zu werden, brauche ich so ein symbolisches Spektakel nicht!" Dem Bremer Museums-Kurator Peter Friese ist klar, dass Sierra "Tabus verletzt": Vielleicht sei eine solche Aktion die einzige Möglichkeit, "gegen das Verflachen und Überformen der Erinnerung anzugehen", meinte der Kunstexperte: "Es gibt keine Chance, dem Schock zu entgehen."
Santiago Sierra: Künstler und Provokateur
Der 1966 in Madrid geborene Santiago Sierra genießt als Künstler einen internationalen Ruf. Mit seinen politischen Inszenierungen, die an die Performance-Kunst der 60er Jahre erinnern, provoziert der seit 1995 in Mexiko-City lebende Spanier bewusst: Immer wieder weist er auf rassistische Ausgrenzung und die Degradierung der Menschen auf die Ware Arbeitskraft hin. Dabei scheut der Künstler, der auch an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste studiert hat, auch nicht vor drastischen Aktionen zurück, die in Fotografie und Video dokumentiert werden.
So tätowierte Sierra arbeitslosen jungen Kubanern eine lange Linie auf den Rücken oder färbte bei der Biennale von Venedig 133 Afrikanern die Haare blond, um sie in "Europäer" zu verwandeln. Einwanderer aus Afrika ließ er an der Straße von Gibraltar Erdlöcher ausheben, die Gräbern ähnelten, und wiederum in Venedig versperrte er die Türen des spanischen Biennale-Pavillons für alle Kunstfreunde, die keinen spanischen Pass besaßen. Im vergangenen Jahr sorgte der Spanier in Hannover für Aufsehen, wo er in der Kestnergesellschaft einen Ausstellungs-Raum mit Schlamm füllte: Damit wollte er an das Ausheben des Maschsees als Arbeitsbeschaffung in den 30er Jahren erinnern.
Drastische Aktionen gegen Rassismus und Ausbeutung
Mit drastischen Aktionen, die sich gegen Rassismus und Ausbeutung wandten, hat sich der aus Madrid stammende und in Mexico City lebende Künstler bereits seit Jahren in der Kunstszene einen Namen gemacht. So tätowierte er jungen Arbeitslosen eine lange Linie auf den Rücken, färbte die Haare von Afrikanern blond, um sie zu "Europäern" zu machen oder mauerte auf der Biennale von Venedig den spanischen Pavillon zu, den nur Spanier nach Vorlage ihres Passes betreten durften.
Fraglich bleibt, ob Sierras jüngste Aktion aus meterlangen, schwarzen Schläuchen und laufenden Automotoren doch nicht eher zu einer Art von "Katastrophentourismus" Kunstsinniger nach Stommeln führt, wo seit 1991 international angesehene Künstler wie Richard Serra, Eduardo Chillida, Carl Andre, Rosemarie Trockel oder Sol LeWitt ihren Kommentar zu dem Gedenkort abgeben. Ob es wirklich zu dem von Künstler erwünschten "sinnlichen Erlebnis" kommt, um dem unbegreifbaren Grauen näher zu kommen?
Zentralrat der Juden übt Kritik
Für den Zentralrat der Juden geht die "niveaulose" Sierra-Aktion jedenfalls weit über das hinaus, was würdigem Gedenken angemessen ist: Man könne so auch auf den Gedanken kommen, das ehemalige KZ Auschwitz zu rekonstruieren, um Besuchern in Gasmasken "ein authentisches Erfahrungserlebnis" zu vermitteln, kommentierte Generalsekretär Kramer bitter.
Der Bürgermeister der rheinischen Kleinstadt, Karl August Morisse, mag nicht glauben, "dass sich jemand beleidigt fühlt, weil die Sinnhaftigkeit des Werks offenkundig ist". Er biete allen Kritikern die Diskussion über das drastische Kunstwerk in seiner Stadt an. Gegenüber dem "monströsen" Massenmord an den Juden sei "Gleichgültigkeit das Schlimmste".