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M.Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier André Schürrle – ein Mann wagt den Spielabbruch

André Schürrle beendet seine Karriere
Ex-Weltmeister André Schürrle beendet mit 29 Jahren seine Karriere im Profi-Fußball – von Micky Beisenherz gibt es dafür Glückwünsche
© Jonathan Nackstrand / AFP
André Schürrle verabschiedet sich aus dem Fußball-Business – mit gerade einmal 29 Jahren. Eine Entscheidung, die Respekt verdient, sagt Micky Beisenherz. 

29.

Mit 29 starten die meisten richtig ins Berufsleben ein.

Das Studium ist beendet. Papa hat den Unterhalt eingestellt. 

Die anderen drei aus der WG sind ausgezogen, und du bist plötzlich alleine mit dem Sandwichmaker.

In den Clubs kommst du dir langsam vor wie ein Zivilfahnder.

Die Jugend, das sind jetzt die anderen.

Und nicht wenige müssen erkennen, dass das Leben zwar voller Optionen ist – aber eben nicht mehr für Dich.

Ein Drittel des Lebens ist rum.

Vielleicht das vielversprechendste.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Im Fußball, wo sich für gewöhnlich alles etwas schneller dreht, ist man mit 29 im Herbst des Lebens angekommen.

Spieler unterschreiben den einen großen "Rentenvertrag", wechseln noch einmal zu einem richtig großen Verein.

Wenn es denn bis dahin so gut gelaufen ist. 

Mit 29 hat Schweinsteiger seinen Körper, der in profifußballerischen Dimensionen hinüber war wie ein öffentliches Gebäude in Berlin, zum WM-Triumph geschleppt, geackert und geblutet.

Dass die Heldensaga vom Schweini zum Chef vollendet werden konnte, ist nicht zuletzt der Leistung des Spielers zu verdanken, der nun mit gerade einmal 29 Jahren seine Karriere beendet: Andre Schürrle.

Er war es, der mit einem gleichermaßen späten wie schönen Hackentrick das Führungstor gegen Algerien schoss, eine Nation von titelgeilen Schlandkettenhunden davor bewahrte, als Favorit bereits im Achtelfinale auszuscheiden – und Jogi Löw von dem bereits angefeuchteten Stempel, die größte Pfeife überhaupt zu sein.

Es folgten schöne Tore im legendären Halbfinale gegen Brasilien und eine geschichtsträchtige Vorlage auf den Kurzzeitmessi Mario Götze.

Ein Sommer, der ausreicht, um ewig in Kneipen davon zu erzählen, beim Ferrero Sommerfest eingeladen zu werden oder bei der ultimativen Chartshow auf der Couch mit Lily Becker  über die schönsten WM-Songs aller Zeiten zu diskutieren.

29. Zu alt, um im Business nochmal oben ins Regal zu langen, zu jung, um aufzuhören.

Sollte man meinen.

Es ist ein Schritt, der für viele unverständlich ist.

Es sind oft dieselben, die Millionengehälter für Schmerzensgeld halten und meinen, dass ein hoher Kontostand der psychischen Hygiene dient.

"Das muss der abkönnen. Dafür verdient er ja genug!"

Hier hat sich jemand womöglich gerade gerettet, und dafür gebührt ihm Respekt.

Vor zehn Jahren war dieses Ende nicht absehbar. Schürrle war über Jahre hinweg ein toller Bundesligaspieler, bei Mainz war er Teil der legendären "Bruchweg-Boys", begeisterte bei Leverkusen und wechselte schließlich zum FC Chelsea.

Der Mensch verkommt zum Spekulationsobjekt

Spätestens hier war er schon mittendrin in einem gewaltigen Inkubator, in dem Spieler zwar – ja, das ist richtig – viel Geld bekommen, aber noch viel mehr umsetzen müssen.

Der Mensch verkommt zum Spekulationsobjekt, er wird zur Wette, zum Bitcoin in Stutzen.

Wie bei Hans im Glück wurde er von den jeweils ablösenden Vereinen sukzessive hochgetauscht und mit monetären Hoffnungen aufgeblasen.

Nach Chelsea kam Wolfsburg, und nach Wolfsburg kam der BVB, der offenbar gerade reich und dumm genug war, ihn für völlig überteuerte 30 Millionen einzukaufen.

Dafür konnte Schürrle nichts. Aber der gemeine Fußballfan ist nicht eben bekannt für seinen Hang zu nuancierten Empathiehäkeleien.

(Ich habe mich als BVB-Fan über diese Summe übrigens auch laut und vernehmlich aufgeregt.)

Der Druck war da.

Und da, wo in der Beurteilung der Akteure zwischen Hurensohn und Fußballgott kaum noch eine emotionale Auslaufzone zu sein scheint, muss man als fühlendes Individuum – das ist der Fußballer ja wohl – höllisch aufpassen, keinen psychischen Schaden zu nehmen.

Nicht jeder ist ein Basler, ein Matthäus oder ein Effenberg.

Spieler, denen ich es durchaus abnehme, dass es sie stets geil gemacht hat, von den Rängen beschimpft zu werden.

Ob sie es lange ertragen hätten, von den "eigenen" Fans beschimpft zu werden – wer vermag das im Nachhinein schon zu sagen.

Im Leben gibt es nur zwei zentrale Themen: Lust oder Angst.

Bei Schürrle dominierte irgendwann die Angst, Fehler zu machen.

Aus dieser Haltung der beklemmenden Fehlerminimierungssehnsucht heraus kann kein lustvolles Spielen gedeihen.

Dazu kommen Verletzungen, Grüppchenbildungen und persönliche Affini- oder Animositäten mit dem jeweils neuen Trainer, und ach….

Viele Jungs geraten früh hinein in dieses Milieu, in dem mir Spieler oft vorkommen wie irgendwas zwischen Kindersoldaten auf Finanzsteroiden und Rennpferden, die im Kern doch nichts anderes sind als Spekulationsobjekte mit viel Ballgefühl.

Wem das bislang verborgen geblieben ist, dem wurde das deutlich klar gemacht, als sich eine ganze Armada von Männern während des Lockdowns die Strapse angezogen hat, um für die Bundesliga-Vereine die Fernsehgelder herein zu holen.

Eine mehrteilige Charityveranstaltung zum Selbsterhalt der Clubs.

Das ist nicht verwerflich.

Hat aber mit dem Sport, in den wir uns verliebt haben, so viel zu tun wie der Begriff "Anhänger" mit der Person, die nach einem Spiel Menschen wie Schürrle bei Facebook oder beim Bäcker angepöbelt hat, also hätte er gerade eine sechsköpfige Familie überfahren.

Fan kommt von Fanatismus

So kalt und technokratisch der Sport auf Funktionärsebene oft sein mag, so ungesund emotional ist er auf den unteren Rängen.

Enttäuschte Liebe schlägt schnell in Hass um, und Fan, das kommt von Fanatismus.

Die einzigen Werte, die zu gelten scheinen, werden beim Laktattest gemessen oder sind dem FIFA Soccer auf der Playstation zu entnehmen.

Gnadenloser Leistungssport mit hohem Verschleiß und Austauschfaktor als notwendige Begleiterscheinung, um das Insta-Game zu pushen.

Viele gute Kader, wenig Mannschaften.

Es ist ein Elend.

Nachvollziehbar, dass Sebastian Deisler mit 27 keinen Bock mehr hatte,  Marcel Jansen mit 29, Mario Götze scheint mit 28 auf dem besten Wege dorthin. (Nicht, dass ich mir das wünschen würde.)

Und was heißt überhaupt: "Wer mit 29 Jahren die Karriere beendet, hat den Fußball nie geliebt."

 Wie bei vielen Lieben, muss das, was man später vorfindet nicht zwingend dem entsprechen, wofür man früher Gefühle entwickelt hat – oder um es anders zu sagen: Ein guter Schuss Blindheit kann helfen, den Fußball im Jahr 2020 noch zu lieben.

Andre Schürrle hat eine Entscheidung getroffen, die sicher nicht leicht war.

Ja, es gab auch 2,5 Millionen Euro Abfindung.

Inwieweit die gerechtfertigt sind, das wird er selbst wissen.

Ihm gebührt Respekt. 

Für eine ordentliche Karriere als Fußballer.

Und dafür, sich sein Leben zurück geholt zu haben.

Glückwunsch. 

Alles Gute.

P.S.: Hätte er den Vertrag beim BVB aufgelöst, nur um die verstörend hässlichen neuen Trikots nicht tragen zu müssen, auch das hätte ich verstanden.

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