Da ist also diese junge Frau, gerade mal 41, und spricht bei der UN-Vollversammlung. Sie greift den russischen Außenminister an, diesen Mann, dessen Image als "russischer Bär" schon so manchen gestandenen Politiker nervös Richtung Notausgang hat schielen lassen.
Währenddessen stehe ich im Supermarkt und beschwere mich telefonisch bei meiner Frau, dass der zuckerfreie Eistee aus ist. In Kiew wiederum ruft ein zunehmend erschöpfter Präsident seine Bevölkerung dazu auf, zu den Waffen zu greifen und sich dem russischen Diktator zu widersetzen.
Wolodymyr Selenskyj ist schon jetzt eine historische Figur. Eine Art Che Guevara des Ostens. Ein Mann, 44 Jahre alt. So alt wie ich. Überdies auch noch aus der Showbranche kommend. Einem Gewerk, das dazu einlädt, nie wirklich erwachsen werden zu müssen. Selenskyj hat 2006 noch "Let's Dance" gewonnen, mit einem lustigen Hütchen auf. Und nun "Leader of the Free World".
Egal, ob die deutsche Außenministerin oder der ukrainische Präsident – es ist meine Generation, die gerade am Motherboard der Geschichte herumhantiert. Jeder falsche Satz, jede falsche Aktion kommt einem Nickerchen im Führerhaus des Weltlaufes gleich.
Waren nicht unsere vorrangigen Probleme bislang dergestalt, uns darüber zu ärgern, dass "Die drei ???" nach den ersten 40 Folgen nicht mehr so gut waren, oder darüber nachzudenken, wie lange Longboard und Basecap noch zu den grauer werdenden Haaren passen? Wir sind diejenigen, die als Kinder Sandra oder A-ha im Radio gehört, das ZDF-Ferienprogramm mit Benny & Anke geschaut haben, und wenn mal jemand mit dem Bus nach London gereist ist, sollte er uns "Doc Martens mitbringen".
Russland war für uns Mathias Rust und der lustige Jelzin
Unsere größten Probleme waren doppelte Panini-Sammelbilder oder später eine verpasste Folge "Beverly Hills 90210". Bundeskanzler, das war immer Helmut Kohl. Bis er es eben nicht mehr war (als wir plötzlich mitwählen durften).
Russland, das war für uns Kinder Gorbi, Mathias Rust und der lustige Jelzin. Ab 1990 hieß es dann endgültig Aufbruch hinein in die totale Wohlstandverwahrlosung. Wir sind hineingezogen worden in eine Zeit des trügerischen Friedens, dem wir uns als Mitteleuropäer lustvoll hingegeben haben. Ballermann, Dr. Alban, Luder-Gipfel bei "Wetten, dass ..?".
"Stop making stupid people famous", lautete seinerzeit ein Hilferuf, den es vorher nicht gab, weil ein derartiges Erblühen von Blödsinn wohl erst im Sonnenlichte der ungetrübten Neunzigerjahre möglich war.
Es war unsere Jugend. Nach dem Abi gingen die Jungs zum Zivildienst – und die Mädchen nach Australien. Danach durften wir erst einmal ungebremst herumprobieren. Ein bisschen studieren, Praktika, vielleicht doch Landschaftsgärtner? Und immer wieder Playstation, Myspace, später Tinder. Tausende Optionen, erdrückendes Möglichkeitsgetöse, bis hin zur totalen Unbeweglichkeit.
Ice-Bucket-Challenge, "Happy", "Gangnam-Style". "Work-Life-Balance", "Me-Time", "Irgendwas mit Medien".
Wolodymyr Selenskyi ist uns in seinem Werdegang voller lustvoller Verantwortungsbefreitheit eigentlich doch so ähnlich – und jetzt, durch einen Münzwurf der Geschichte, eingespannt in eine Situation, die ernster kaum sein könnte. "Ich werde gebraucht", so lautete sein simpler und doch einleuchtender Grund, nicht zu fliehen.
Meine Generation ist jetzt an dem Punkt angekommen, gebraucht zu werden. Unsere schier endlose Pubertät ist vorbei. Pack das Nirvana-Shirt weg!
War schön, so lange spielen zu dürfen.
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